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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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über die Frage nach. Seit Donnerstagabend musste er dem Drang widerstehen, Carol ins Vertrauen zu ziehen. Gestern hatte er sich trotz der langen Autofahrt zurückhalten müssen, um seinem Vater nicht sein Herz auszuschütten, und auch vorhin bei seinem Sohn hatte er sich zurückgehalten, statt ihn aufzuklären. Er hatte keines der Telefonate gemacht, die der Doktor ihm empfohlen hatte. Ausnahmsweise rührte seine Zurückhaltung nicht – wie bei der Nachricht über Jacksons Tod – von seiner Angst vor der Realität. Shep empfand es als Beleidigung , auch nur eine einzige Menschenseele zu informieren, bevor Glynis nicht selbst Bescheid wusste.
    »Goldman wollte nicht, dass ich es dir sage«, fuhr Shep beherzt fort. »Genau genommen wollte er, dass ich es allen anderen sage, nur dir nicht. Damit deine Mutter und deine Schwestern sofort nach New York kommen. Deine Freunde wären plötzlich alle auf einmal hier aufgetaucht, um wieder ihre kleinen Reden zu schwingen, die dir so verhasst sind, und du hättest nicht verstanden, was das alles soll. Goldman wollte, dass alle Bescheid wissen und du im Dunkeln bleibst. Aber weißt du was? Mir ist es lieber, die anderen bleiben im Dunkeln. Zur Hölle mit den Leuten. Es dir aber nicht zu sagen ist respektlos. Und ich respektiere dich. Vermutlich hab ich mich in den letzten Monaten nicht so verhalten, aber ich respektiere dich.«
    Sie hockte auf allen Vieren und war kurz davor, ihm die Augen auszukratzen. »Mir was sagen?«
    »Goldman gibt dir noch drei Wochen.«
    Sie knickte ein, aber er wollte diese Sache zu Ende bringen. Er war des Redens noch nicht müde.
    »Inzwischen eher zweieinhalb. Vielleicht täusche ich mich, und du willst es wirklich gar nicht wissen, aber ich finde, das ist mir gegenüber nicht gerecht. Alles, was ich für mich behalten musste – die CTs. Sie sind schrecklich gewesen, Glynis. Darf ich mir das auch mal von der Seele reden? Die Stellen werden immer größer. Ach, und rate mal, wie lange du von Anfang an eigentlich zu leben hattest? Ein Jahr. Ein Jahr ab der Diagnose, das ist der Durchschnitt bei Mesotheliom. Richtig, mit ausschließlich epitheloiden Zellen hättest du vielleicht bis zu drei Jahren gehabt, allenfalls, mit Chemo. Aber in dem Moment, als Hartness diese scheißbiphasischen Zellen entdeckt hat, sank deine Lebenserwartung auf zwölf Monate. Du hast fast zwei Monate mehr geschafft, und wir sollten alle dankbar sein. Aber ich habe mit diesem einjährigen Todesurteil ganz allein leben müssen; du hast bei Knox im Büro ja deutlich gemacht, dass dich deine Lebenserwartung nicht interessiert. Dann bringt sich Jackson um, und mein erster Gedanke ist: Ich kann es meiner Frau nicht erzählen. Weil ich dich mit allem verschonen soll. Aber das macht einsam. Ich will im Moment nicht allein sein. Ich habe weniger als drei Wochen, dann kann ich für den Rest meines Lebens allein sein. Und wir haben weniger als drei Wochen, um zu tun, was wir tun werden, überhaupt, was immer es ist, und deswegen will ich nach Pemba. Jetzt. «
    Er hatte ihr nun also gesagt, dass es kein Kampf war. Dass es nie ein Kampf gewesen war. Dass es ohne Kämpfen auch kein Verlieren gab. Er hatte sie vom Haken gelassen. Sie konnte jetzt aufhören zu kämpfen. Glynis lag auf der Seite wie eine Jagdtrophäe – wie ein Gnu mit Bauchschuss, noch keuchend – und murmelte ins Bettzeug: »Okay, ich kapituliere.«
    Doch als sie nach ihrer offiziellen Kapitulation den Kopf hob, wirkte sie angenehm überrascht, immer noch am Leben zu sein, als hätte sie seit Monaten nur ihre Entschlossenheit davon abgehalten, auf der Stelle umzukippen. »Also gut«, sagte sie munter. »Lass uns nach Pemba fahren.«
    Während sie in seine Arme kroch, hatte Shep den verblüffenden Eindruck, dass es ihr ernst war. Er drückte sie an sich.
    »Ich wollte noch so viel machen, Shepherd«, sagte sie. »So viele Sachen, und die stecken jetzt für immer in meinem Kopf fest.«
    »Das spielt keine Rolle.« Er verzichtete auf den Proformatribut, wie exquisit die wenigen Arbeiten seien, die es in die Dreidimensionalität geschafft hatten. Die Zeit war knapp, und Komplimente würden sie nur langweilen. »Ich bin nicht wortgewandt genug, um zu erklären, was ich meine, aber ich weiß, dass es keine Rolle spielt. Denn vielleicht … wenn du einen Schritt zurückgehst … weil du und alle und alles irgendwann stirbt und die ganze Welt … auf so seltsame Weise …«
    Sie machte eine wegwerfende Geste mit kräuselnden

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