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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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rückte näher an den Horizont und tauchte die Anlage in die sirupgoldene Farbe eines Spätrieslings.
    »Eigentlich nicht«, sagte Glynis. »Diese Luft hier, die hat was, diese Trägheit. Schwer vorstellbar, dass hier überhaupt irgendetwas eine sonderlich große Rolle spielt.«
    »Ich sag dir, was eine Rolle spielt«, sagte Shep wehmütig. »Wir hätten schon 1997 herziehen sollen.«
    DIE TAGE DARAUF – eine gefühlt endlose Zeit, dabei war es nicht mal eine Woche – kam Glynis auf wundersame Weise zu Kräften, und Shep wagte zu hoffen, dass Philip Goldmans Prognose zu pessimistisch gewesen war. Sie unternahmen gemütliche Strandspaziergänge und sammelten Schneckenmuscheln. Sie beobachteten die Krebse, die zu ihren Löchern huschten, und wie die Vögel über den Banyanbäumen herabschossen und wie winzige silberne Fischschwärme vor dem Pier in die Luft sprangen und sich mit einem Platscher durch die sich kräuselnde Wasseroberfläche zurückfallen ließen. Als die unbarmherzige Hitze am späten Nachmittag nachließ, nahm er seine Frau an die Hand und führte sie ins seichte Meer, wo der Sand fein und sauber und das Wasser fast heiß war von der äquatorialen Sonne. In der geräumigen, mit Holzlamellen verhängten Duschkabine tupfte er ihr mit dem Schwamm das Salz von der Haut und spülte ihr die Sandkörner aus den Zehenzwischenräumen. Er prasste im Souvenirladen, kleidete sie fürs Abendessen in hauchdünne baumwollene Hemdkleider und wickelte ihr weiche indische Tücher um den Schädel. Wegen der Mücken tupfte er ihr Insektengel hinter die Ohren wie feines Parfum. Bei Sonnenuntergang saßen sie träge an der Bar am Fuß des Piers, wo Glynis komplizierte Wodka-Papaya-Cocktails bestellte, einfach nur zum Spaß. Sie trank zwar keinen davon aus, und zu den vielen Dingen, die nun keine Rolle mehr spielten, gehörte ihr Alkoholkonsum.
    Ihr Appetit wurde ein wenig besser, und beim Abendessen knabberte sie an einem Stück Langustenquiche, spießte einen Calamaresring oder einen Bissen von Sheps gegriller Königsmakrele auf ihre Gabel. Sie schwelgten in Erinnerungen an frühere Recherchereisen; Glynis sagte, Pemba erinnere sie an die Bucht von Puerto Escondido an der mexikanischen Küste. (»Hilf mir auf die Sprünge«, sagte Shep. »Was war noch mal falsch an Puerto?« »Zu viele Amerikaner«, sagte Glynis.) Schließlich erkundigte sie sich nach seinen Plänen – was für eine Art Haus er bauen wolle und wo. An ihrem dritten Abend meinte sie sogar schelmisch: »Du bist ja nun nicht gerade zum Mönch geschaffen. Ich weiß, wovon ich rede. Gehen wir mal davon aus, dass sie bleibt … Findest du Carol eigentlich attraktiv?«
    So dumm war Shep nicht, dass er geglaubt hätte, seine Frau wolle ihn allen Ernstes verkuppeln. Äußerst besitzergreifend und von Natur aus eifersüchtig, wie sie war, hatte sie bis vor knapp über einer Woche nicht mal zur Kenntnis genommen, dass ihr Mann sie überleben würde. Also besaß er die Klugheit, umstandslos zu behaupten: »Nicht im Geringsten.«
    »Bist du sicher?«, fragte Glynis neckisch. »Sie hat die schönsten Titten in der ganzen nördlichen – und jetzt auch südlichen – Hemisphäre.«
    »Kleine sind mir lieber.«
    »Hattest ja auch keine Wahl.«
    »Außerdem ist sie zu nett«, sagte er wegwerfend. »Nicht genug Abgründe.« Insgeheim glaubte er, dass sich spätestens nach dem letzten Besuch ihrer Küche in Windsor Terrace bei Carol allerhand »Abgründe« aufgetan haben mussten.
    »Du hast doch selber keine nennenswerten Abgründe«, sagte Glynis.
    »Genau. Deswegen brauche ich ja welche.«
    Sheps war grenzenlos dankbar, dass er über seine Zukunft sprechen durfte. Unweigerlich hatte er darüber nachgedacht, aber immer mit schlechtem Gewissen und reichlich Aberglauben, als wünschte er ihren Tod herbei oder könne ihn mit dem Gedanken daran tatsächlich beschleunigen. Jetzt, wo das Thema nicht länger tabu war, hatte es verblüffenderweise sogar komische Seiten. »Du weißt, dass ich die Absicht habe, dich im Garten zu begraben«, scherzte er beim Nachtisch, »wie einen Hund.«
    Als sie sich schlafen gelegt hatten, gingen das Gekeife zwischen Flicka und ihrer Schwester im Gesang der Zikaden und dem ausgelassenen Gackern der Buschbabys in den überhängenden Zweigen unter. Er las seiner Frau aus Hemingway vor. Er sang ihr Lieder vor, an die er sich aus seiner Kindheit erinnern konnte, als seine Mutter ihn und seine Schwester zu Bett gebracht hatte; seine Mutter hatte eine

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