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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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Mountains. Er scrollte nach unten. Er las sich den ganzen Abschnitt einmal durch, dann las er ihn ein zweites Mal. Nachdem er den Computer ausgeschaltet hatte, weinte er möglichst leise, um seine Frau nicht zu wecken.

Kapitel 4
    BEIM RALLIGEN RANDY – nur einer der Spottnamen der Belegschaft – nahm Jackson zufrieden die jüngsten Entwicklungen zur Kenntnis. Sollten die Kollegen über Shep und seine armselige »Fluchtphantasie« so viel lästern, wie sie wollten. Über kurz oder lang würden sie dahinterkommen, warum sich der Exfirmenchef noch immer vor Pogatchnik in den Staub warf, und dann würden sie sich mies fühlen. Jackson freute sich schon jetzt darauf.
    Zugegeben, in dieser Freundschaft hatte er lange Zeit immer nur die Rolle des Handlangers gespielt, aber seit dem vollendet idiotischen Verkauf von Allrounder, bei dem sich Shep vom Chef zum Mitkollegen heruntergestuft hatte, und jetzt mit der vollendeten Katastrophe mit Glynis und dem Scheitern von Pemba hatte sich die Dynamik auf subtile Weise umgekehrt. In letzter Zeit trat er als Sheps Beschützer auf. Die Rolle hatte ihren Preis. Er konnte ihn nicht mehr einfach um etwas bitten. Solange Shep der stoische Helfer gewesen war, hatte er sich auf ihn verlassen können. Jackson hatte nie dreist die Hand aufgehalten (wie alle anderen im Leben des armen Kerls). Aber mit Flicka, einem mal mehr und mal weniger ausgeprägten Hang zum Glücksspiel und einigen damit nicht ganz unzusammenhängenden Problemen mit seinem Dispokredit war immer er derjenige gewesen, der in Schwierigkeiten steckte und guten Rat brauchte. Jetzt musste er den Mund halten, und für Jackson war es unnatürlich, den Mund zu halten, überhaupt und egal worüber.
    Es gab ein spezielles Thema, das er schon seit einiger Zeit versucht gewesen war anzuschneiden, und er war nun froh, einen besseren Grund zum Aufschub des Gesprächs zu haben als bloß seine übliche Feigheit. Es war kein Thema, über das man mit anderen Männern redete, auch wenn es eigentlich hätte so sein sollen, und mit Frauen erst recht nicht. Zudem sprach prinzipiell ja auch einiges für die Wiederherstellung der Intimsphäre in einem Land, in dem man an jeder Bushaltestellte von einer Fremden angesprochen und mit der Geschichte ihrer Abtreibung behelligt werden konnte. Der Termin stand fest, was hätte es also noch groß zu besprechen gegeben?
    Als sie um dreizehn Uhr in ihre knauserige vierzigminütige Mittagspause aufbrachen, fragte Shep, ob sie nicht vielleicht lieber spazieren gehen wollten anstatt etwas zu essen; da es ihn nach der Arbeit sofort nach Hause zu Glynis zog, konnte er sich nicht mehr die Zeit nehmen, dreimal die Woche zum Eisenstemmen ins Fitnessstudio auf der 5th Avenue zu gehen. (Jackson war ein wenig erleichtert, dass er neuerdings um das gemeinsame Workout herumkam; neben Shep sah er immer ganz schön alt aus.) Auf sein Sandwich verzichten zu müssen verhagelte ihm zwar die Laune, aber es gab nur eine zuverlässige Antwort: kein Problem. Angesicht von Krebs, selbst von Krebs zweiten Grades, war man prinzipiell rechtlos.
    »Weißt du, Glynis hätte ihr Geheimnis auf keinen Fall sehr viel länger für sich behalten können, selbst wenn sie es versucht hätte«, sagte Shep, als sie die 7th Avenue hinuntermarschierten; es war viel zu kalt für einen Spaziergang. »Die ersten Rechnungen sind schon gekommen.«
    »Lass mich raten«, sagte Jackson. »Es ist nicht nur eine Rechnung, es sind Dutzende, stimmt’s? Fünfzehn Seiten lang, von jedem noch so kleinen Radiologen und jedem noch so kleinen Labor. Bei uns erledigt Carol den ganzen Papierkram, und ich bin ihr so dankbar, dass ich heulen könnte.«
    »Was mich fertigmacht, ist, dass man nur schwer rausbekommt, was man eigentlich an wen zahlen muss. Bevor ich Leute dafür hatte, hab ich die Buchhaltung bei Allrounder immer selber gemacht, und eigentlich kenn ich mich damit aus. Aber ich hab Stunden gebraucht, um rauszufinden, was ich wohin schicken muss.«
    »Verdammte Scheiße, man sollte meinen, sie würden’s einem leichter machen, ihnen sein letztes Geld zu schenken«, sagte Jackson. »Aber ich glaub ja, die machen das mit Absicht. Dieser Papierkrieg, die ganzen Ziffern und Codenummern. Das ist ’ne Nebelwand. Dahinter stellen sie einem für ein einziges Pflaster unbemerkt dreihundert Dollar in Rechnung.«
    Jackson warf einen verzweifelten Blick die breite Straße hinunter. Ihm fehlte der alte Park Slope – ein paar ramponierte Pizzaläden,

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