Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)
Sekretmobilisierung war, stellte Dankbarkeit für Flicka ein Fremdwort dar. Sie litt unter so vielen Ärgernissen, dass sie ihren Ärger von der Drainage einfach auf etwas anderes übertragen hatte: ihre chronische Verstopfung wegen der vielen Medikamente, die entwürdigenden Einläufe.
Hinzu kam, dass der größte Auslöser einer dysautonomen Krise schlicht und ergreifend die blanke Angst vor der nächsten dysautonomen Krise war.
Die ersten Anzeichen waren wohl in seiner Abwesenheit aufgetreten, während Carol damit beschäftigt war, für das Essen bei den Knackers einen Schokoladenkuchen zu backen. Wie so etwas ablief, wusste er zur Genüge. Flicka hatte mit ihren sechzehn Jahren mehr medizinische Unwürdigkeiten erdulden müssen als die meisten Leute über ein ganzes Leben hinweg, und sie war von Natur aus stoisch. Sicher, sie nörgelte viel, aber wenn sie tatsächlich anfing zu jammern, schrillten bei Carol und ihm die Alarmglocken; »Persönlichkeitsveränderung« und »emotionale Labilität« waren die typischen Anzeichen einer Krise. Das Problem war, dass die meisten Kinder mit Riley-Day-Syndrom – eine ältere Bezeichnung für familiäre Dysautonomie, die eher an ein Popduo erinnerte, das erbauliche Songs im christlichen Radio sang – schon »jammerten«, wenn ihre Schwester den Familiencomputer in Beschlag genommen hatte. Flicka jedoch hatte da eindeutig eine existenzielle Ader. Ihre Persönlichkeit veränderte sich nie allzu sehr. Wenn Flicka doch einmal »labil« wurde, dann war das wesentlich schwerer zu ertragen. Sie begann dann zu »jammern«, dass sie ihr Leben und ihren Körper hasste; dass sie nichts habe, auf das sie sich freuen könne, abgesehen von noch mehr Klinikaufenthalten und der Aussicht, irgendwann im Rollstuhl zu sitzen, und auf die Verschlimmerung ihrer Symptome – auf mal hohen, mal niedrigen Blutdruck, auf chronische Verstopfung, miserablen Gleichgewichtssinn, Hornhautentzündungen, Krampfanfälle.
Schwitzend saß sie in der Küche und »jammerte«, dass sie lieber tot wäre – wobei ihre Sprüche mit den normalen Pubertätsdramen nichts zu tun hatten. Ihr war es ernst. Sie war kein Teenager, der »keinen Begriff vom Tod« hatte; dergleichen war Jackson ohnehin noch nie untergekommen. Wie die meisten Kinder konnte sich Flicka sehr wohl etwas unter dem Tod vorstellen, und an Tagen wie diesem schien ihr das Ende nur allzu reizvoll.
Und tatsächlich, noch draußen auf der Treppe vor der Haustür konnte er das nasale Kreischen seiner Tochter aus dem hintersten Winkel des Hauses hören. (»Nein, ich hab die Scheißweste nicht angehabt, ich hasse diese Scheißweste, ich kann’s nicht mehr hören, wie toll das Leben ist, keine Ahnung, was ihr alle daran so toll findet!« Die kurzen Pausen wurden sicherlich mit Carols üblicherweise beschwichtigenden Worten gefüllt, dass sie so etwas nicht sagen dürfe, dass das Leben ein »kostbares Geschenk« sei, sentimentale Predigten, die die Wut ihrer Tochter eher noch schürten.)
Jackson war selbst noch wacklig auf den Beinen, und seine Sicht war noch leicht verschwommen; er hätte eigentlich nicht Auto fahren dürfen, und er hatte das Verbot des Arztes ignoriert. Das Beruhigungsmittel schien eine nachträglich aufputschende Wirkung zu haben, denn als er drüben auf der 4th Avenue den Wagen volltanken ließ, war ihm das Geplauder mit dem Tankwart selbst für seine Begriffe manisch vorgekommen.
»Warum lasst ihr mich nicht einfach abkratzen? Lohnt sich doch eh nicht!«, heulte Flicka aus der Küche.
Der Tumult, auf den er stieß, bestätigte ihn in seiner Überzeugung, dass er sich verdammt noch mal diese eine Sache wirklich verdient hatte. Oder? Nur diese eine Sache.
»Ich will deine Scheißrühreier nicht!«, keuchte Flicka gerade, als ihr Vater die Küche betrat. »Ich will nicht den ganzen Samstagnachmittag bei dieser Scheißlogopädin sitzen und bei dieser Beschäftigungstherapie und dieser Scheißkrankengymnastik. Ich werd sowieso sterben, also lasst mich lieber fernsehen! Ist doch egal!«
Carol hatte das Mädchen an den Haaren gepackt, um ihr wieder mal ihre künstlichen Tränen zu verabreichen. (Eines der ersten Anzeichen von FD, nämlich, dass das Baby nicht weinen konnte, hatte etwas Zynisches; jeder Säugling mit einer solchen Zukunft vor sich hätte jedes Recht dazu gehabt.) »Lass mich einfach in Ruhe! Lass mich doch einfach in Ruhe draufgehen!«, krächzte Flicka, und dann begann sie zu hyperventilieren.
Es war, zugegeben,
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