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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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darüber nachgedacht hat.«
    »Im Gegenteil«, stimmte Glynis zu. »Sie fühlt sich nicht als Nutznießer, sondern als Opfer. Sie hat Komplexe so groß wie ein Mammutbaum.«
    Dass Glynis in diesem Punkt nicht anders war, behielt Shep für sich.
    »Das Beste am heutigen Abend fand ich nicht mal deine Ansage«, fuhr sie fort. »Sondern die Krokodilstränen danach. Diese ganzen theatralischen Beschwörungen und die Verzweiflung. Total künstlich! Genau wie ihr Geschleime wegen des Fischmessers. Sie ist eine schreckliche Schauspielerin. Für sie ist das Schlimmste an meinem Krebs, dass sie jetzt nicht mehr nach Lust und Laune in deine Keksdose greifen kann.«
    »Na ja, eigentlich wäre doch jetzt zu erwarten, dass in Anbetracht der schweren Krankheit die ganzen … Reibereien … zwischen dir und Beryl –«
    »Reibereien?« Glynis lachte, und ihr Lachen klang wundervoll. »Sie verabscheut mich!«
    »Okay, aber selbst das … sollte irgendwann weggehen. Sie kann jetzt nicht mehr so negativ über dich denken, aber sie tut es, und ihr ist nicht wohl dabei.«
    »Es hat aber auch etwas Köstliches. Ich kann’s nicht ganz erklären, aber für mich war es ein Genuss, ihr bei ihrem so offensichtlich falschen Spiel zuzusehen. Ich habe das Gefühl, dieses Mesotheliom wird mir hier und da sogar ein bisschen Spaß machen.«
    Während er liebevoll das Fischmesser abtrocknete, empfand er es als seltsam anrührend, dass Glynis sich aufraffte und von hinten ihre Arme um ihn schlang. Sie war so erschöpft, dass jede kleine Geste der Zuneigung sie außerordentlich viel Kraft kosten musste.
    »Ach, und hast du gesehen?«, murmelte Glynis in sein Hemd und lachte noch einmal. »Die Pralinen hat sie trotzdem mitgenommen.«

Kapitel 6
    DAS TIMING FÜR das Vorher-Foto-Essen bei Shep war noch schlechter, als Jackson vermutet hatte. In der Nacht war die Frischhaltefolie abgegangen, die sich Flicka abends über die Augen band, um die Vaseline zu versiegeln – er hätte niemals dieses No-Name-Pflaster kaufen sollen –, und am nächsten Morgen waren ihre Augen total entzündet gewesen. Als er für ein paar Stunden aus dem Haus war, hatte sie sich offenbar … nun, »aufgeregt« wäre untertrieben gewesen.
    Eine Zeit lang hatte Carol ihn ständig gedrängt, Flicka möglichst nicht in »Stresssituationen« zu bringen, wo doch der bei Weitem größte Stressfaktor ihre Krankheit selbst war. Es störte sie nicht, dass ihr Vater wie üblich maulte, dass jedes vom Gesetzgeber vorgeschlagene, vermeintlich »grüne« Gesetz, etwa die Erhebung von Steuern auf Plastiktüten oder auf den Kohlenstoffdioxidausstoß von Flugzeugen, zufällig nur noch mehr Geld in die Staatskasse brachte. Was sie sehr wohl störte, war, morgens mit verquollenen Augen aufzuwachen und schon vor dem Frühstück eine Bindehautentzündung zu haben. Es störte sie, nicht sprechen zu können, obwohl sie jede Menge zu sagen hatte. Es störte sie, ständig sabbern und schwitzen zu müssen; selbst wenn man ihren Mitschülern eingebläut hatte, sich nicht über sie lustig zu machen, wäre ihr ein wenig ganz normales Schülergefrotzel lieber gewesen als die übertriebene Höflichkeit und die abgewandten Blicke. Sie hatte es satt, alle anderthalb Stunden eine Lösung aus Wasser, Zucker und Salz in ihre PEG-Sonde schütten zu müssen, die ihr nicht annähernd die schnaufende Befriedigung verschaffte, die sie bei ihrer Schwester nach einem großen durstigen Schluck Cola beobachtete. Sie hatte es satt, jeden Morgen und jeden Abend die dicke schwarze »Atemwegsweste« anzuziehen, als müsste sie ihren Schlaf in zwei Lagen Verpackung hüllen.
    Flicka hätte dankbar sein können, dass die Weste ihren Eltern ersparte, sich rittlings auf sie zu setzen und ihr mit beiden Fäusten den Rücken zu bearbeiten. Sie hätte auch dankbar sein können, dass sie die Brustraumdrainage aufgegeben hatten, mit der sie als Kind tyrannisiert worden war: der Schlauch, der ihr auf unschöne Weise durch die Nase geschoben wurde, das widerliche Gurgeln und Schlürfen der Pumpe, die groteske Ansammlung von Schleim im Müllbehälter; Jackson hatte immer staunen müssen, wie viel von dem zähen und klebrigen Zeug ihre beiden kleinen Lungenflügel produzierten, und selbst wenn Carol mit gewohnt nüchterner Pflichtschuldigkeit den Auswurf entsorgte, konnte er nicht der Einzige gewesen sein, dem beim Anblick der klumpigen Masse übel wurde. Und auch wenn er selbst dankbar für die inzwischen weniger abstoßende

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