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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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Unmenge Alkohol herum – zwei Flaschen Wein und zwei weitere gute Flaschen Sekt –, die einem wenig feierlichen Anlass etwas Festliches geben sollten. Es markierte das Ende einer Ära, die letzte Zusammenkunft ihrer stets redseligen Vierergruppe, die nicht von Einschränkungen im Speiseplan, von Müdigkeit, Schmerzen und enttäuschenden Bluttests gezeichnet sein würde, wobei das Ende jeder Ära eigentlich der Anfang einer neuen war.
    Shep hatte die gleiche Maßlosigkeit beim Essen walten lassen. Auf dem Tisch im Wintergarten drängten sich genug Vorspeisen für eine fünfundzwanzigköpfige Gästeschar: Humus, gegrillte Scampispieße, Spargel außerhalb der Spargelsaison und Jakobsmuscheln in Speck; die etwas aus dem Rahmen fallenden Dim-Sum waren eindeutig nur deshalb dabei, damit Glynis’ silberne Essstäbchen zum Einsatz kamen. In den Fenstern standen Teelichter. Glynis kam in einem bodenlangen Samtgewand nach unten, passend zu Carols glitzerndem Cocktailkleid; mit dem Kerzenlicht und der Kleidung der Frauen hatte die Stimmung im Wintergarten etwas von einer Séance oder einer Satansmesse. Als Jackson die Gastgeberin innig in den Arm nahm, sanken seine Finger auf beunruhigende Weise in den Samt; es war eine Menge Stoff und sehr wenig Glynis. Ihre Schulterblätter waren spitz wie Hähnchenflügel. Das war kein Körperumfang, mit dem man sich einer größeren Operation unterzog, und ihm wurde klar, was es mit dem vielen Essen auf sich hatte.
    »Du siehst phantastisch aus!«, rief Jackson. Sie bedankte sich mit mädchenhafter Scheu, doch er hatte gelogen. Es war die erste von vielen kommenden Lügen und somit eine weitere Erinnerung, dass der heutige Abend eher einen Anfang markierte als ein Finale. Glynis hatte sich stärker geschminkt als sonst; das Rouge und der volle rote Lippenstift waren wenig überzeugend. Schon jetzt war ihr Gesicht von der Angst vor dem Älterwerden gezeichnet. Dennoch, sie war eine hochgewachsene, hübsche Frau, und besser als jetzt würde sie wahrscheinlich für einige Zeit nicht aussehen. Dass sie vielleicht nie wieder so gut aussehen würde, war ein Gedanke, den Jackson nicht an sich heranlassen wollte.
    Sie setzten sich in die Korbstühle, während Shep die Sektgläser holte. Früher, vor sechs Wochen noch, hätte sich Glynis im Gespräch eher zurückgehalten. Ihrer Erfahrung nach hatten knappe Kommentare mehr Gewicht als übertriebene Geschwätzigkeit. Sie gehörte zu den Leuten, die anderen dabei zusahen, wie sie sich in Details verhedderten, um dann mit einer einzigen Bemerkung alles vom Tisch zu fegen und den Wortwechsel zum Abschluss zu bringen. An diesem Abend war ihre Haltung majestätisch, als hielte sie Hof.
    Er und Carol waren ängstlich darum besorgt, ihr nicht ins Wort zu fallen, wenn sie den Mund aufmachte. Sie ließen sie Schritt für Schritt die vorgesehene Prozedur am Montagmorgen ausbreiten, obwohl sie dank Shep ja bereits im Bilde waren. Glynis stand im Mittelpunkt, aber es war eine Art von Mittelpunkt, auf die jeder, der nur halbwegs bei Verstand war, gern verzichtet hätte.
    »Zumindest hab ich die Gespräche mit Glynis’ Familie hinter mich gebracht«, sagte Shep. »Ihre Mutter einzuweihen war ein Horrortrip.«
    »Sie ist so eine Diva«, sagte Glynis. »Ich konnte sie am anderen Ende der Leitung noch hinten in der Küche heulen hören. Ich wusste, dass sie mein Drama sofort für sich vereinnahmen würde. Man könnte meinen, sie hätte Krebs. Es ist ihr sogar gelungen, mir ein schlechtes Gewissen zu machen, weil sie sich jetzt schlecht fühlt. Ist das nicht unfassbar?«
    »Aber immerhin«, sagte Carol vorsichtig, »macht sie sich überhaupt Sorgen. Das ist doch schon mal was.«
    »Sie macht sich vor allem um sich selbst Sorgen«, sagte Glynis. »Sie wird in ihrer Lesegruppe die Geschichte melken, bis nichts mehr kommt – ja ja, das schreckliche Unrecht, das einem widerfährt, wenn das eigene Kind noch vor den Eltern todkrank wird, und so weiter und so fort. Meine Schwestern dagegen machen alles richtig, schwören hoch und heilig, dass sie mich besuchen kommen, aber vor allem sind sie froh, dass es sie nicht erwischt hat. Wenn ich Glück habe, schickt Ruth mir ein paar Duftkerzen, die sie mal gratis von MasterCard bekommen hat.«
    Selbst in den besten Zeiten hatte Glynis etwas Schroffes, und Jackson fragte sich, mit welcher Reaktion ihrer Familie sie überhaupt einverstanden gewesen wäre.
    »Und wie haben es die Kinder aufgenommen?«, fragte Carol.
    Glynis

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