Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)
Schuhe.«
»Ich möchte wetten, dass sie den Unterschied nicht verstehen.« Carol riss ihm das Blatt aus den Händen. »Was ist das? ›Der Bezirk Nummer dreiunddreißig hat ein Wertgutachten von 35 000 Dollar. Wie hoch ist die Gebühr, um sieben Monate lang bei 50 Dollar pro Monat plus 104 Dollar Nebenkosten eine Schule zu führen?‹ In der achten Klasse? Da will dich jemand auf den Arm nehmen, Jackson. Heather, Zeit zum Zähneputzen.«
»Das ist kein Witz. Das war eine echte Prüfung.«
»Ach ja, und woher weißt du das?«, sagte Carol. »Glaubst du immer alles, was in deiner AOL-Inbox landet und deinem Unmut Vorschub leistet?«
»Wir zahlen gutes Geld, damit unsere Kinder was lernen. Stattdessen werden sie so verhätschelt, dass Heather nicht mal mehr vernünftige Zensuren bekommt. Was lesen wir auf ihrem Zeugnis? ›Gleichbleibende Leistungen‹, ›meist zufriedenstellend‹ oder ›macht das und das mit Unterstützung des Lehrers‹. Es gibt kein ›mangelhaft‹, ›weigert sich‹ oder ›macht’s zwar, kommt aber nur Mist dabei raus‹. Und du hast diesen Newsletter doch gesehen: Lehrer dürfen jetzt keinen Rotstift mehr benutzen. Rot sei zu ›konfliktträchtig‹ und ›drohend‹, also werden ihre Tests jetzt in ›beruhigendem‹ Grün korrigiert. Um die Lernatmosphäre ›angenehmer‹ zu gestalten, haben sie jetzt das Klingelzeichen zwischen den Stunden abgeschafft. Wenn das so weitergeht, wird Heather groß und bekommt einen Job, und wenn ihr Chef dann zum ersten Mal zu ihr sagt: ›Sie sind zu spät‹, oder wenn er ein minimales Problem damit hat, sie für eine Arbeit zu bezahlen, die sie nicht gemacht hat, weil sie keine Lust dazu hatte , dann springt sie von der nächsten Brücke.«
»Nur weil deine eigene Schulzeit grausam war und die Schüler gegeneinander ausgespielt wurden«, sagte Carol, »heißt das noch lange nicht, dass deine Töchter die gleichen Methoden öffentlicher Demütigung ertragen müssen.«
Carols hektische Bewegungen waren der einzige Indikator, dass sie wütend war. Sie knallte die Teller zwar nicht gerade in den Geschirrspüler, aber er merkte an der kontrollierten Entschlossenheit, mit der sie sie in ihre Fächer stellte, dass sie sie am liebsten gegen die Wand gepfeffert hätte.
»Übrigens, deine Chorizo-Kichererbsen waren hervorragend.«
»Versuch jetzt bloß nicht, mir Honig um den Bart zu schmieren. Flicka, bist du fertig mit deinen Mathehausaufgaben?«
Dass bei ihrer Mutter die »Ich muss keine Hausaufgaben machen, weil ich ja sowieso bald sterben muss«-Nummer nicht zog, war ihrer älteren Tochter klar. »Hab ich … schon fertig«, sagte sie vage. Zum Glück für Flicka hatte ihre Mutter gerade andere Dinge im Kopf.
»Wie geht’s Glynis?«, fragte Carol schroff, als wäre ihr die Antwort egal.
»Minimal besser. Etwas nervös, weil sie eigentlich noch im Krankenhaus hätte bleiben sollen, aber die Krankenversicherung nicht mehr zahlen wollte. Du musst es doch eigentlich wissen, du hast sie doch gestern noch besucht.«
»Sie hat immer noch Schmerzen. Ich glaube ja wirklich, dass sie sie zu früh nach Hause geschickt haben. Vermutlich hast du sie mit deinen reaktionären rechtslastigen politischen Ansichten behelligt.«
»Meine Ansichten sind nicht rechtslastig. Und es würde mich wundern, wenn sich Glynis durch mich ›behelligt‹ fühlen würde. Sie ist wahnsinnig wütend, und sie hat gern jemand um sich herum, der genauso wütend ist.«
»Jackson, du weißt ganz genau, dass das unangemessen ist.«
Jackson hasste das Wort unangemessen, das in der heutigen Zeit von verkniffenen Obertussen inflationär benutzt wurde, um andere dazu zu bringen, sich schmutzig zu fühlen und sich zu schämen. Man wollte am liebsten gleich nachgucken, ob man auch ja keine Bremsspuren in der Unterhose hatte. Das Wort hatte etwas absichtlich Verschwommenes, als wäre das, was man falsch machte, zu ekelhaft, um beim Namen genannt zu werden. Und es verlieh dem Normativen eine moralische Qualität. Der ständige Rückgriff auf das Unangemessene legte eine dünne fortschrittliche Lasur auf das, was eigentlich nichts anderes als altbackener Konformismus war.
Mit verächtlicher und demonstrativer Effizienz wischte Carol mit dem Schwamm über die Arbeitsflächen, als wollte sie sagen, er hätte wenigstens die Küche aufräumen können, statt die Zeit der Kinder mit einer offensichtlich fingierten Prüfung für Achtklässler zu verschwenden. Ihr Unmut war aufgesetzt, denn sie
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