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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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fett. Setzte man sie auf Diät, entwickelten sie ein gestörtes Verhältnis zum Essen, aßen heimlich und wurden fett. Vielleicht konnten er und Carol schon von Glück reden, dass Heather zumindest nicht versuchte, ihre Schwester auch noch in puncto Magerkeit auszustechen, ein Wettbewerb, den sie wahrscheinlich nicht überlebt hätte.
    »Aber jetzt ist wieder alles okay?«, fragte Jackson.
    »Eigentlich nicht.« Heather schaute leidend. »Mir ist immer noch ein bisschen schwummrig.«
    »Wenn du dich nicht gut fühlst, solltest du vielleicht lieber kein Eis essen.«
    »Vielleicht hab ich Unterzuckerung. Kimberley muss die ganze Zeit süße Sachen essen, weil sie sonst in Ohnmacht fällt. Papa?« Heather krabbelte auf seinen Schoß. Als ihr Po mit voller Wucht auf ein gewisses Körperteil traf, durchzuckte ihn ein solcher Schmerz, dass ihm die Tränen in die Augen traten. Er versuchte, sie unauffällig zur Seite zu schieben. »Ich kann mich im Unterricht nicht konzentrieren, und ich muss die ganze Zeit zappeln. Vielleicht brauch ich ja eine höhere Dosis Cortomalaphrin.«
    Herrgott, schon seit Monaten war sie versessen darauf, sich eine Lernschwäche attestieren zu lassen. Die Wahrheit sah so aus, dass Heather einfach nicht so gescheit war wie ihre ältere Schwester, und vielleicht stellte ja ein ganz normaler Durchschnitts-IQ auch schon eine Art Lernschwäche dar. Komisch, wenn man einfach nur dumm war, dann war man auf obskure Weise selbst schuld daran, aber sobald man »ADS« hatte, wurden die intellektuellen Defizite plötzlich zu einem einwandfrei medizinischen Problem. Es ergab eigentlich wenig Sinn, dass Kinder mit Lernschwäche bei standardisierten Tests so viel Zeit bekamen, wie sie wollten, während die hoffnungslos dummen Kinder beim Läuten abgeben mussten, wo doch beide Lager gleichermaßen Opfer ihrer Gene waren. Eigentlich hätten doch die dummen Kinder verdammt noch mal mehr Zeit bekommen müssen, denn ein Medikament, das einen klüger machte, war bisher noch nicht erfunden worden.
    »Vielleicht«, sagte Jackson. »Aber meinst du nicht, dass du einfach nur besser aufpassen musst?«
    »Kapier ich nicht.«
    »Aufpassen ist nichts, was einem passiert. Man zwingt sich dazu. So wie du dich zwingen kannst, nicht zu zappeln.«
    »Wie denn?«
    Jackson wackelte mit dem Knie, auf das er sie geschoben hatte, und während sie durchgeschüttelt wurde, machte Heather ah-hah-ah-hah-ah und rief lachend: »Hör auf!«
    »Ich zappele! Und wenn’s nach dir geht, kann ich nicht damit aufhören!« Vorsätzlich schüttelte er sie so lange durch, bis es ihr zu viel wurde, und erst dann pflanzte er seinen Fuß auf den Boden. »Siehst du. Mit dem Aufpassen ist es genauso. Die Lehrerin redet gerade über eine Geschichte, die ihr im Unterricht gelesen habt, und du hast angefangen, darüber nachzudenken, auf was für eine Sorte Eis du Lust hättest. Dann beschließt du, erst später über das Eis nachzudenken und erst mal über die Geschichte.«
    »Glaub ich aber nicht, dass das so geht. Ich glaube, ich brauch mehr Cortamalaphrin.« Heather wand sich auf dem Schoß ihres Vaters und drehte den Kopf hin und her. »Iiih, hier stinkt’s!«, erklärte sie und rutschte von seinem Knie.
    Ausnahmsweise war es ein Glück, dass Flicka keinen Geruchssinn hatte.
    »Passt mal auf, ihr beiden«, sagte Jackson und angelte ein paar zusammengefaltete Ausdrucke aus seiner Jackentasche. »Wie wär’s mit einem Spiel.«
    »Wir können kein Spiel spielen«, sagte Heather. »Wir haben keinen Computer in der Küche.«
    »Für dieses Spiel braucht man keinen Computer. Es ist ein Denkspiel. Ein Freund von mir hat mir eine Schulprüfung aus dem Jahr 1895 gemailt. Wisst ihr, wann das war?«
    Ratlos verzog Heather das Gesicht. »In der guten alten Zeit?«
    Selbst hinter den dicken Gläsern war zu erkennen, wie Flicka die Augen verdrehte. »Man sollte meinen, dass eine Fünftklässlerin in der Lage sein sollte, ohne Taschenrechner 2005 minus 1895 zu rechnen.«
    »Gut, Flicka, wenn du jetzt so hart ins Gericht gehst mit deiner Schwester, dann wollen wir doch mal sehen, wie gut du bei einem Test abschneidest, der für ganze zwei Stufen tiefer konzipiert ist.«
    »Drei Stufen«, widersprach Flicka verächtlich. »Wenn ich nicht ständig ins Krankenhaus müsste, wär ich schon in der Elften.«
    »Dann eben drei Stufen. Jetzt passt auf, im Jahr 1895 musste jeder Schüler diese Prüfung bestehen, um in Salina, Kansas, in die neunte Klasse zu kommen. Was irgendwo

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