Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)
in der Pampa liegt. Am Arsch der Welt. Und wir leben in New York, dem Zentrum des Universums, und wir sollten doch eigentlich viel intelligenter und kultivierter sein als diese Hinterwäldler im mittleren Westen, stimmt’s?«
»Stimmt!«, sagte Heather.
»Und wir leben im Zeitalter der Technik und so weiter, also müssten wir doch eigentlich viel mehr wissen als die Leute damals vor über hundert Jahren, stimmt’s?«
»Stimmt!«, sagte Heather. Flicka besaß keinerlei Teamgeist und weigerte sich mitzuspielen. Außerdem roch sie den Braten und blickte misstrauisch auf das Blatt Papier in der Hand ihres Vaters.
»Fangen wir mal mit der ersten Frage an, total einfach: ›Nenne neun Regeln für die Verwendung von Großbuchstaben.‹«
»Meinen Namen, meinen Namen!«, rief Heather.
»Sehr gut. Eine Regel. Wie lauten die anderen acht?« Flicka haderte sichtlich mit sich. Da die meisten Leute tatsächlich bei der ersten Begegnung mit ihr annahmen, sie sei »lernbehindert«, ließ sie kaum eine Gelegenheit aus, das Gegenteil unter Beweis zu stellen.
Sie zuckte mit den Schultern. »Länder. Städte. Bundesstaaten.«
»Gut. Aber ich wette, unsere Freunde in Salina, Kansas, würden dafür plädieren, dass Ortsnamen nur als eine Regel zählen.«
»Herr und Frau und so was«, sagte Flicka. »Satzanfänge.«
»Super«, sagte Jackson und kam sich ausnahmsweise wie ein echter Vater vor. »Das wären schon vier Regeln. Jetzt brauchen wir nur noch fünf.«
»Wenn man in einer E-Mail richtig wütend ist!«, sagte Heather.
»Stimmt, aber 1895 gab’s noch kein E-Mail, also würde ich sagen, das zählt nicht.«
»Titel von Büchern und Filmen«, sagte Flicka. »Organisationen, wie PETA.«
»Hervorragend. Noch drei Regeln.«
Schweigen. »Mir ist langweilig.«
»Dir ist nicht langweilig, Flicka, du bist einfach nur mit deinem Latein am Ende.«
Zugegeben, ihre Augen mussten bei Gelegenheit nachbenetzt werden, aber dass es gerade jetzt sein musste, sah nach Berechnung aus.
»Gut, dann nehmen wir eine andere Frage«, sagte Jackson. »Nenne die Wortarten, und definiere solche, die keiner Modifikation unterliegen.«
»Was ist denn schon wieder ’ne Modifikation, verdammte Scheiße?«
»Zügle deine Zunge«, sagte er, der vollendete Papa. »Und fragt nicht mich, ich stelle nur die Fragen. Könnt ihr denn wenigstens die Wortarten benennen?«
»Lange und kurze Wörter?«, sagte Heather.
Flicka verengte die Augen. »Ist das so was wie Hauptwörter und Tuwörter ?«
»Substantive und Verben. Du willst mir doch nicht erzählen, dass ihr in der zehnten Klasse immer noch Haupt- und Tuwörter dazu sagt.«
»Doch, will ich. Und ich kann nichts dafür«, sagte Flicka.
»Nein, das stimmt. Aber ich zahle Steuern bis zum Abwinken, damit ihr Mädchen was lernt, und derart bescheuerte Ausdrücke will ich nicht hören.«
»Ich hab dir doch vorhin schon gesagt, ich sollte diesen ganzen Scheiß nicht lernen müssen. Die Leute verschwenden nur ihre Zeit, und meine auch.«
»Das Schulsystem zielt nicht auf Schüler ab, die wahrscheinlich noch vor ihrem einundzwanzigsten Lebensjahr tot sind«, sagte er schroff. Das hätte er nicht sagen dürfen, aber Flicka stellte sich auf so grausame Weise ihrer tödlichen Krankheit, dass er manchmal den Fehler beging, im Gegenzug genauso grausam zu sein. Wichtiger noch, die Schmerzen in seinem Schritt waren inzwischen fast ununterbrochen zu spüren, wodurch sein Geduldsfaden dünner und sein Urteilsvermögen geschwächt war. Er versuchte das Heft wieder in die Hand zu bekommen.
»Dann wollen wir mal zum Matheteil übergehen«, schlug er vor. »Ein Karren ist zwei Fuß tief, zehn Fuß lang und drei Fuß breit. Wie viele Scheffel Weizen kann er fassen?«
Flicka verschränkte die Arme. »Du weißt doch, dass ich scheiße bin in Mathe.«
»Wie wär’s dann mit Erdkunde? ›Nenne alle Republiken Europas und die jeweils dazugehörige Hauptstadt.‹«
»Okay, Papa, ich hab’s verstanden. Wir sind alle Vollidioten, und in der ›guten alten Zeit‹ waren alle Genies. Aber du weißt die Antworten doch genauso wenig.«
Er lachte und wollte gerade zugeben, dass er tatsächlich nicht in der Lage wäre, mehr als zwei bis drei Fragen der fünfstündigen Prüfung zu beantworten, als Carol eiligen Schrittes die Küche betrat. »Warum willst du deinen Kindern unbedingt das Gefühl vermitteln, sie seien dumm?«
»Das will ich nicht! Ich will ihnen das Gefühl geben, sie seien ungebildet, und das sind zwei Paar
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