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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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schäumte offenkundig vor Wut und war eigentlich dankbar, dass sie etwas zu tun hatte. Ohne Wäschewaschen, Rechnungen bezahlen, ein schwitzendes, näselndes Kind, das beständig rehydriert oder in Frischhaltefolie gewickelt werden musste, wäre Carol durchgedreht. Sosehr sie die häuslichen Pflichten als Zumutung empfinden mochte, so abhängig war sie doch von ihrem unablässigen, fieberhaften Aktionismus, denn die lebenswichtige Fähigkeit, auch mal gar nichts zu tun, war ihr längst abhanden gekommen. Carols Geschäftigkeit ähnelte dem vollen Terminkalender von Glynis’ Mutter, nur dass Hetty zumindest auf der Jagd nach Selbstverwirklichung war; Carol rackerte sich immer nur für andere ab. Dieser zwanghafte Altruismus sah nach Selbstverleugnung aus, war aber noch viel unheimlicher. Sie hatte nicht mehr die geringste Ahnung, was sie für sich selbst wollen könnte; was brachte sie also schon für ein Opfer? Dass sie über die Jahre auf heimtückische Weise ihre persönliche Freude durch Tugendhaftigkeit ersetzt hatte, machte ihn traurig.
    Klappernd verteilte Carol die üblichen Pillen. Nachdem Heather mit Nachdruck ins Bett geschickt worden war, saß Flicka noch am Tisch und nahm sich absichtlich Zeit mit dem Zerstampfen ihrer Medikamente. Das Mädchen war unverbesserlich neugierig und spürte, dass irgendetwas in der Luft lag. Ihre Mutter hätte Flicka liebend gern enttäuscht, konnte sich aber irgendwann nicht mehr zurückhalten. Während sie sich mit einem kleinen Besen auf die Suche nach verirrten Kichererbsen machte, murmelte Carol hartherzig in Jacksons Richtung: »Dann freust du dich ja jetzt bestimmt.«
    »Zufällig hab ich mal keine schlechte Laune«, sagte er. Er hatte die Füße auf dem Stuhl neben sich aufgestützt und war beim zweiten Bier, und er rückte sich diskret zurecht, indem er eine Hand in die Hosentasche schob. »Aber ich hab den Eindruck, du meinst was Spezielles.«
    »Du hast die Nachrichten gesehen?«
    »Ach das.« Er war erleichtert. Natürlich würde Carol nicht auf andere Dinge anspielen, solange Flicka dabei war. Dennoch hatte jedes Thema, das bei ihnen auf den Tisch kam, eine verborgene Qualität, und er war selbst über eine derart ermüdende Zerstreuung dankbar, ebenso wie Carol dankbar war, den Boden fegen zu können. »Warum sollte ich mich darüber ›freuen‹, dass Terri Schiavo gestorben ist?«
    Nachdem sämtliche rechtlichen Möglichkeiten von den Schwiegereltern ausgeschöpft worden waren, hatte man ihr auf Anraten des Ehemannes zwei Wochen zuvor die Magensonde entfernt. Die arme Frau aus Florida hatte weitaus länger durchgehalten, als ihre Ärzte gedacht hatten.
    »Tja, diese ganzen unnötigen Ausgaben «, sagte Carol. »Du und Shep müsstet euch doch freuen wie die Schneekönige. Jetzt können wir ihren Tropf und einen Satz frischer Bettwäsche nach Afrika schicken.«
    »Irgendwie bin ich schon erleichtert, dass sie von ihrem Leiden erlöst wurde«, sagte Jackson vorsichtig.
    »Aber wenn’s nach dir geht, hat sie doch ohnehin nichts mehr mitbekommen. Deiner Ansicht nach hat sie nicht mal mehr existiert. Wieso hätte sie also leiden sollen?«
    »Schatz, ich hab keine Ahnung, warum dir an dieser Geschichte so viel liegt. Du kanntest sie nicht; sie war nicht deine beste Freundin. Es gab nur ein paar Fotos, die uns einen Eindruck davon vermittelt haben, wie sie vielleicht gewesen sein könnte, als sie noch ein Mensch war.«
    »Sie war immer noch ein Mensch: Genau darum geht es doch! Und sie wurde ermordet! Man hätte ihr genauso gut eine Kugel in den Kopf jagen können.«
    »Aber ich hab sie nicht umgebracht. Wieso bist du wütend auf mich ?«
    »Du hast sie sehr wohl umgebracht. Deine Einstellung hat sie umgebracht. Oh, guck mal, die Frau ist nicht mehr hübsch und unterhaltsam, also Stecker raus! Wen würdest du denn noch gern entsorgen, wenn wir schon dabei sind? Wer ist denn sonst noch zu teuer oder zu unpraktisch? Alte Leute? Oder Menschen mit Downsyndrom? Würdest du die auch in die Gaskammer schicken, nur weil sie deine Achtklässlerprüfung nicht bestehen? Du stehst da auf sehr dünnem Boden!«
    »Wir leben nun mal auf dünnem Boden«, sagte Jackson, »ob’s dir passt oder nicht. Ja, wir bringen andere Leute um. Wir geben Serienmördern tödliche Injektionen, und wir mähen die Taliban in Afghanistan nieder –«
    »Nicht, wenn ich ein Wörtchen mitzureden hätte«, sagte Carol. Sie biss sich auf die Zunge und warf einen bestürzten Blick auf Flicka. Es war zu

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