Diesseits Des Mondes
Michaels Mutter herum. Ein Lehrer rannte,den Rektor zu holen. Michael hörte seine Mutter schreien: Wenn du nochmal den Michi anfasst, hau ich dich tot. Der Große wollte zurückschlagen, aber andere Große hielten ihn fest.
Der Rektor kam und sagte, dass Michaels Mutter kein Recht habe, einen Schüler zu schlagen. Die Schläge nimmt ihm kein Pastor mehr ab, entgegnete Michaels Mutter zufrieden. Dann ging sie, und Michael ging neben ihr. Der Rektor brüllte: Die Zeiten, in denen Sie sich alles erlauben konnten, die sind vorbei. Michaels Mutter drehte sich um: Ach, und Ihren Posten in der Gauleitung haben Sie vergessen?
Eine Zeit lang ging Mutters Friseurgeschäft nicht so gut. Doch sie machten sich nichts daraus. Der Laden musste ohnehin renoviert werden. Es waren Sommerferien, Michael half beim Tapezieren. Das war ihm lieber, als wenn er, angetan mit einem Kittel, den sie für ihn genäht hatten, Friseur spielen musste. Seine Mutter machte ihm dann einen widerlichen Wasserscheitel, und er hatte die Haare aufzukehren, die ständig auf dem Boden lagen. Er musste den Kundinnen Friseurumhänge umlegen und die beiden Waschbecken sauber halten. Wie er es hasste, wenn die Frauen »na du kleiner Frisör« zu ihm sagten.
Michael wusste inzwischen, dass sein Vater vermisst war und wohl nicht aus dem Krieg zurückkommen würde. Konrad Adenauer, den die Mutter Fuchs aller Füchse nannte – und darin war sie sich zum ersten Mal einig mit dem Großvater –, dieser Konrad Adenauer, der für Michael aussah wie ein Hunnenkönig, holte die Kriegsgefangenen aus Russland zurück. Nur Michaels Vater nicht. Seine Mutter nahm Michael mitzu dem Hellseher Hanussen II. Der bekam Geld dafür, dass er sah, ob die Vermissten noch lebten oder nicht. Er sagte für fünfzig Mark, dass er Michaels Vater noch sehe, und damals glaubte es Michael, und auch seine Mutter glaubte es noch. Bis dann der Elefant kam. Da glaubte Michaels Mutter gar nichts mehr.
Michael lernte amerikanische Besatzungsmacht und amerikanische Kaugummis kennen. Er hatte gesehen, wie größere Kinder Silberschmuck mit Schlämmkreide putzten. Sie wollten, so sagten sie, den Schmuck Amerikanern bringen, die auf der Kölner Straße, direkt vor Sartorius’ Villa, angehalten hatten. Michael ging hinter den anderen her. Er sah die Panzer, die Soldaten, die sich fremde Wörter zuriefen. Michael stand stumm da und er hatte Angst. Als ein schwarzer Soldat ihm die erste Orange seines Lebens gab, rannte er rasch mit der Orange weg. Er zog sich mit dieser goldenen Wunderkugel zurück auf den obersten Speicher des großelterlichen Hauses, aber die anderen fanden ihn. Es wurde gestritten, wie die Orange zu schälen sei. Keinesfalls wie ein Apfel, Orangen schält man in Spalten, sagte einer, der seine Mutter gefragt hatte. Also Spalten. Andere Hände als seine rissen die Spalten voneinander, Michaels Anteil an der goldenen Kugel war ein matschiges, tropfendes Stück Enttäuschung. Er ging aber trotzdem wieder zu den Amerikanern, die inzwischen auf dem Schulhof standen mit ihren Trucks. Und wieder trug Michael eine Trophäe heim. Eine Scheibe Brot, so groß, dass er sie mit beiden Händen wie ein Tablett tragen musste. Von dieser Brotscheibe tropfte langsam und süß ein dickerReisbrei. Den entwertete Beckers Friedchen. Mit ihrem schwarz geränderten Zeigefinger beschrieb sie einen Halbkreis auf Michaels Brot, und ihre Zunge schoss vor wie die einer Schlange. Michael gab ihr, was sie entweiht hatte. Obwohl er hungrig war.
Mutter hatte Teppiche und Kleider zu den Bauern gebracht, die sie gegen Speck, Mehl und Eier eintauschten. Sogar das Verlobungskleid von Mutter, das aus blauer Spitze mit den ziselierten Metallspitzen am Gürtel, war jetzt weg und das weiße Hochzeitskleid auch. Zuerst hatte Mutter die Sachen, die ihr viel bedeuteten, an die Bauerntöchter verliehen. Als sie zurückkamen, rochen sie derart nach Kuhstall, dass auch tagelanges Auslüften nichts half. Da trennte sich Mutter endgültig von ihren Kleidern. Es kam nicht mehr darauf an. Im Wohnzimmer der Großeltern und im Fremdenzimmer waren jetzt die Willers, die Reddens und die Gadows einquartiert, Flüchtlinge aus Ostpreußen. In der alten steinernen Küche, die so hieß, weil hier wirklich alles, Boden, Wände, Herd, Tisch und Bänke, gemauert war, hier kochten die Flüchtlinge gemeinsam.
Direkt aus der steinernen Küche führte eine Tür in den Keller. Die Treppe zu dem alten Gewölbe war steil und schmal,
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