Diesseits Des Mondes
spürte, dass es viel mehr diesen Frauen galt als ihm –, hielt die Mutter Predigten: Es ist Krieg, Michael. Wir schicken alles an die Front, was wir entbehren können. Jeder muss seine Sachen in Acht nehmen.
Ein Foto zeigte den fünfjährigen Michael im Winter 1941. Soldatenmantel und Käppi. Mein kleiner Soldat Michael, hatte seine Mutter in Sütterlinschrift daruntergeschrieben. Ein Abzug dieses Bildes war seinem Vater an die Front geschickt worden. Michael hätte statt des kratzigen Soldatenmantels lieber eine Uniform gehabt wie sein Großvater, der Lokführer. Wenn der Großvater, viel zu selten, ihn mitnahm in das riesige geheimnisvolle Stellwerk über den schimmernden Schienensträngen, wenn der Heizer Stoffel den LokführerSchäfer respektvoll grüßte, dann hätte Michael auch gern die Hand an so eine Mütze gelegt. Michaels Großvater sprach wenig, aber er war hinter den Weibern her. Seit Michaels Großmutter tot war, hatte sich etwas verändert im Haus. Michael spürte es, obwohl er noch klein war. Er spürte die Blicke der Verwandten, das Tuscheln, die Spannung zwischen Großvater und Mutter, die Michael nicht zu benennen wusste. Michaels Großmutter hatte sich aufgehängt, doch niemand im Haus wollte es wahrhaben. Aber Michael hatte es trotzdem erfahren. Du bist schuld an Mamas Tod. Michaels Mutter schrie es dem Großvater ins Gesicht, als der ihr eine andere Todesanzeige reichte, die Nachricht vom Tod des einzigen Sohnes, Mutters Bruder Carl. Hier, das hast du nun von deinem Herrn Hitler. Ganz leise war die Stimme des Großvaters gewesen. Michael hatte ihn kaum verstanden, die Mutter wohl umso besser. Ihr Schrei trieb Michael in seine Unterführung, hallte bis dorthinein, brach sich an den grünbemoosten glitschigen Quadern. Michael war häufig hier, nicht nur auf dem Weg zu seiner Mutter. Wenn andere Leute die Treppe zur Unterführung betraten, ging Michael rasch hindurch. Es war nur
seine
Unterführung, wenn sie leer war. Er fühlte sich dann allein, für kurze, grünschimmernde Momente gehörte er nur sich selbst. Wenn dann noch die Mauer, an der er lehnte, leise erbebte, wenn ein sanftes, immer tieferes Grollen einen Zug ankündigte, dann rissen Glück und Grauen Michael hoch, und unter dem vielfach sich brechenden Donner des über ihm hinwegratternden Zuges stürzte Michael hinaus ans Licht.
Als Michaels Großmutter sich erhängt hatte, kam Tante Flora ins Haus. Sie war nicht sehr schön, dochder Großvater sagte trotzdem Florfina zu ihr, was Michaels Mutter misstrauisch machte. Man muss sich ja schämen, sechzig Jahre alt und keinen anderen Gedanken im Kopf als Weiber. Michael konnte deutlich in den Augen seiner Mutter lesen, was sie über seinen Großvater dachte. Doch sie sprach es nie mehr aus. Michaels Mutter sprach überhaupt wenig, seit Hitler tot, der Krieg aus und Deutschland besetzt war. Eines Tages, als Michael wieder das Essen für Mutter ins Friseurgeschäft brachte, war sie nicht da. Ihr Kittel hing über einer Frisierhaube. Kundinnen, Papilloten und Dauerwellwickler im Haar, standen beieinander vor der kleinen Ladentheke. Als Michael reinkam, sagte Beckers Friedchen, dass seine Mutter eben abgeholt worden sei. Von vier Herren, sagte Beckers Friedchen.
Sie war schon alt und leckte sich unablässig ihre fast unsichtbaren Lippen. Wenn sie aufgeregt war, so wie jetzt, leckte sie noch rascher. Es ist, sagte sie heiter zu Michael, wegen der Frauenschaft, der N S-Frauenschaft , du weißt schon. Natürlich wusste Michael. Er wusste es vor allem von den Fotos, die seine Mutter in der Uniform einer N S-Frauenschafts -Führerin zeigten. Es gab auch welche, auf denen er, Michael, im Kindergarten stand, beim Hitlergruß. Er hielt die Hand schön hochgestreckt und blinzelte in die Sonne. Und an den Gruß konnte er sich noch genau erinnern: Wir grüßän unsärn Führär, Heil Hitlär. Das Foto Hitlers und das Bild vom Obersalzberg hingen jetzt nicht mehr im Wohnzimmer.
Gegen Abend kam Michaels Mutter heim. Ohne mit jemandem zu reden, ohne jemanden anzusehen, ging sie ins Schlafzimmer. Großvater nahm Michaelmit aufs Stellwerk, und er durfte im Führerstand der Rangierlok mitfahren.
Wenige Tage später ging Michael mit Manni, Hansi und Norbert zum Steinbruch. Beckers Margot kam mit und Birgit, die Tochter vom Doktor Bachmann. Sie klaute ihrem Vater immer Verbandszeug und Jod zum Doktorspielen. Auch Heidi und Billie Welling gingen mit. Sie durften abends immer bis zur Dunkelheit auf der
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