Diesseits Des Mondes
täglich getötet, erschossen, in die Luft gesprengt, gefoltert, bis keine Seele mehr in ihnen war. Sharon war oft auf Friedhöfen, bei Abel und den anderen, die vor ihm und nach ihm fielen. Wozu?Wenn es um die Freiheit ging, welche Freiheit hatte dann der tote Abel? Wenn es um das Land ging, um Erez Israel, was hatte der tote Abel von der toten Erde?
Als sie Abel begruben, senkte sich da der Keim des Gedankens in Sharon, wegzugehen aus Israel? Oder war es am Grab der Mutter, an Ruths Grab? War es die Unruhe in Sharon, ihre Suche nach dem Leben? Wo war Sharon daheim?
Sharon hörte noch die Worte des Oberrabbiners bei Ruths Beerdigung: »Fürchte dich nicht, denn ich habe dich ausgelöst, ich habe dich beim Namen gerufen, du gehörst mir. Denn ich, der Herr, bin dein Gott, ich, der Heilige Israels, bin dein Retter. Denn jeden, der nach meinem Namen benannt ist, habe ich zu meiner Ehre erschaffen, geformt und gemacht.«
Als sie Ruth begruben, die ihr Leben selbst beendet hatte, sagte der Rabbi nicht: »Eurer eigen Blut will ich von euch einfordern.« Er sagte nichts, und niemand sagte etwas darüber, dass Ruth aus dem achten Stockwerk eines Rohbaues gesprungen war. Offenbar konnte sie ihr Leben nicht mehr ertragen. Vielleicht konnte sie auch Sharon nicht mehr ertragen. Sharon, die voller Ungeduld war mit der Mutter, die einer Stoffpuppe ähnlicher war als sich selbst. Kam Sharon zum Wochenende aus Nablus heim, gleichgültig um welche Tageszeit, fand sie die Mutter vor dem Fernsehapparat, meist im Nachthemd. Die Wohnung war verwahrlost. Ruth, die Unnahbare, oft Verletzende, aber immer königliche Mutter, gehasst, doch von Sharon trotz allem bewundert in ihrer Welt der Nachrichten, Meinungen, brillanten Glossen – die schöne Ruth lebte jetzt in einer Schattenwelt. So wie Ruthsie, Sharon, nicht auf die Welt hatte bringen wollen, so wünschte Sharon ihrer Mutter jetzt den Tod. Hatte Sharon ihre schöne, junge, ungeduldige Mutter gefürchtet, so hasste sie jetzt die zerstörte, um Zuneigung werbende Fremde. Oder war es Scham, was Sharon die Mutter so verhasst machte? Sharon ertrug die Blicke der anderen nicht, die Prognosen über Ruths Zustand. Offenbar hatte Ruth es auch nicht mehr ertragen. Was wusste Sharon von ihr? Vielleicht war sie schon lange müde von den Nächten ohne Schlaf, vom Weinen der Verzweiflung und des Erkennens? Sharon wollte es nicht wissen. Sie erfuhr jedoch, dass Ruth Ärzte aufgesucht hatte. Deren Diagnose jagte Ruth hinauf in den achten Stock des Hochhauses. Die Tote war zerschmettert, doch Gesicht und Hände waren heil geblieben. Als Sharon ihre Mutter sah, sie ansehen musste von Amts wegen, da beschwerte Ruth das Herz der Tochter mit noch größerer Wucht, als sie das im Leben schon getan hatte. Jedenfalls schien es Sharon, als lächle die Mutter in leisem Triumph.
Abel. Wenn Abel jetzt da wäre.
Als die Maschine der El Al abhob, schaute Sharon auf das Land hinunter, das sie diesmal nicht nur für eine kurze Reise verließ. Sie war mit Ruth in Paris gewesen und in London. Bevor sie ihren Wehrdienst antrat, hatte ihr Vater sie zu sich nach New York eingeladen. Eine Stadt, die Sharon anzuschreien schien: Schau her, wie groß ich bin, wie reich, wie potent. Der Vater, der sie umarmte und küsste, ein fremder Mann. Er wohnte mit seiner Frau Nava im Villagenahe Saint Marks Place. Die Wohnung war winzig und Sharons Vater schien seine Tochter deshalb vom La Ma Ma Experimental Theatre Club in die Carnegie Hall, am nächsten Tag in die New York City Opera, zum American Ballet Theatre, ins Pursuit of Happiness zum Discotanz, in The Peppermint Lounge zum Rockkonzert zu verschleppen, wohl damit sie die Behelfsmäßigkeit, das Improvisierte der väterlichen Existenz nicht erkennen sollte. Dabei war es Sharon völlig gleichgültig gewesen, ob der Vater in glänzenden Verhältnissen lebte oder in desolaten. In Sharon war Neugier gewesen, eine vage Hoffnung, die im Non-stop-Programm unterging. Sharon wusste, dass es in New York, USA, einen Mann gab, der ihr Vater war. Ihre Träume, ihre Sehnsüchte würden sich hier nicht erfüllen.
Sharon sah auf das Meer. Da, wo das Tel Aviv Hilton Hotel stand, war Sharon früher mit ihrer Großmutter zum Meer gegangen. Von der Ben-Jehuda-Straße über die Hayarkon waren es nur wenige Schritte zum Strand, der immer Sharons Lieblingsplatz geblieben war, auch noch, als das Hilton schon gebaut und der Strand immer belebter wurde. Auch mit Ruth hatte sie dort gebadet
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