Diesseits Des Mondes
sie Sharon mit dem Bemerken: Falls Sie einmal Hilfe brauchen. Er sagte das in so sachlich ruhigem Ton, dass Sharon die Karte nahm und in ihre Handtasche steckte. Sie entdeckte die Karte erst wieder, als sie in ihrem Hotel die Handtasche auf dem Bett ausschüttete. Dr. Ferdinand Dietl, las Sharon, Ferdinand Dietl, Rechtsanwalt und Notar.
Aus ihrem Fenster im Bayerischen Hof konnte Sharon die Frauentürme sehen. Jetzt, in ihrem Hotelzimmer, fühlte sich Sharon zum ersten Mal allein, doch es war eine Art festlicher Einsamkeit, Exerzitien, Vorbereitung. Und doch hätte Sharon sich gewünscht, dass die Wände, die Decke ihres Zimmers mit ihr reden könnten.
Im Restaurant, beim Essen, fand sie sich angestarrt von Leuten, die ihr Aussehen den Kleidern verdankten, die sie trugen. Solche Leute waren Sharon unsympathisch, die erinnerten sie an reiche Amerikaner, die nach Jerusalem und Tel Aviv reisten, um zu sehen, wo ihre Spenden angelegt waren.
In ihrer ersten Nacht in Deutschland träumte Sharon von einem fremden Mädchen, das mit großer Strenge auf Sharon zuging und tadelnd fragte: Wie siehst du denn aus? Du bist ja gar nicht festlich gekleidet? Das macht aber keinen guten Eindruck, wenn du stirbst.
Sharon wehrte sich. Du siehst auch nicht sehr schön aus. Und wer sagt dir, dass ich sterben werde?
Das Mädchen antwortete streng: Wie ich aussehe, ist völlig gleichgültig, denn ich bin von innen heraus glücklich. Du jedoch musst festlich gekleidet sein für den Tod, denn du wirst sterben. Sharon fragte: Und warum muss ich sterben? Das Mädchen rief laut, so dass ihre Stimme wie ein Echo nachklang: Du stirbst an der Liebe, an der Liebe ...
Sharon wurde wach, nahm langsam die Umrisse des Zimmers wahr. In ihrem Kopf hallte die Traumstimme noch nach. Sharons Glieder schienen mit Strängen gefesselt, so dass sie nicht wagte, sich zu rühren. Sharon hasste ihre Träume, die einander in geradezu perfider Trostlosigkeit glichen. Sie, Sharon, fand sich suchend in Wüstenzonen, auch in verfallenen Stadtvierteln oder in den drohenden Schluchten der Kupferminen. In Ruinenlandschaften fand sie sich, allein, suchend. Traf sie auf Menschen, waren sie fremd und in großer Zahl. Und in allen Träumen war Sharon unzureichend bekleidet oder nackt. Es gab auch Träume, in denen sie die Großmutter suchte. Es war noch vor wenigen Tagen, als sie von der Großmutter träumte, die nur wenige Meter vor ihr durch eine Tür ging. Als Sharon die Tür öffnete, zeigte sich direkt dahinter eine zweite, die sich nicht öffnen ließ. Da erwachte Sharon.
Selten träumte Sharon von Abel, doch wenn, dann war die Suche nach ihm so schmerzlich, dass Sharon mit Tränen auf dem Gesicht erwachte. Abels Mutter hatte ihr nach der Beisetzung Kinderbilder des Sohnes gezeigt. Abel, der unbekümmert und leuchtend schien, sah auf diesen Kinderbildern meist ernst aus. Ein umschattetes Kindergesicht, Schatten unter den Augen, ernst der kleine Mund. War Abel ein trauriges Kind gewesen? Es gab kein Gleichmaß, sagte seine Mutter. Abel war entweder strahlend froh, so dass er uns alle fast überrollte mit seinem Temperament – oder aber er war so still und traurig, dass niemand ihn trösten konnte. Abels Mutter hatte Sharon ein Bild geschenkt, auf dem Abel, auf seinen Locken die Jarmulka, traurig in die Kamera schaute. Diesen traurigen Abel suchte Sharon in ihren Träumen, und der ständig sich wiederholende Schmerz um die Vergeblichkeit dieser Suche war beim Erwachen auch physisch spürbar. Sharon hatte gelernt, aus diesen Träumen herauszugehen, sie konnte sich befehlen, zu erwachen, indem sie im Halbschlaf das Licht andrehte, womöglich das Radio. So konnte sie am schnellsten siegen über die Schatten der Nacht, die sich im Laufe des Morgens auflösten, nein, nur zurückzogen, denn in allzu vielen Nächten kehrten sie zurück.
Der Radiowecker zeigte 5.36 Uhr. Ein Sender namens Bayern 2 kündete Musik aus Altbayern, Franken und Schwaben an, der nächste Musik für Frühaufsteher; Sharon fand einen dritten, Bayern 4, dessen Klaviermusik – Fantasie C-Dur von Schumann – sie beruhigte. Als das heiße Wasser der Dusche um sie dampfte, wich auch der Klammerring um ihren Kopf. Sharonaß das Obst, das mit den besten Empfehlungen der Hoteldirektion in der Klarsichtfolie prächtig aussah, aber fad schmeckte.
Gegen Mittag ging Sharon durch die Drehtür des Hotels. Sie trug ihr einziges Paar hochhackiger Schuhe, in denen sie mehr als einmeterachtzig
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