Diesseits Des Mondes
maß, da sie barfuß einsachtundsiebzig groß war. Groß genug also, doch Sharon hatte die Vorstellung, als müsse sie heute, an ihrem ersten Tag des neuen Lebens, das begann oder auch nicht begann, als müsse sie da so hoch und unangreifbar wie möglich sein. In der entgegengesetzten Richtung der Drehtür betrat ein Mann das Hotel, den Sharon gestern im Restaurant gesehen zu haben glaubte. Richtig, er grüßte. Sharon war einen Moment erwärmt, vergaß es aber sofort. Sie musste sich jetzt überlegen, in welche Richtung sie gehen wollte. Der mit Platten ausgelegte Gehsteig vor dem Hotel war breit und gepflegt, Taxen warteten, Gäste, Passanten kamen und gingen. Männer starrten Sharon an, Frauen auch, aber sie starrten anders. Sharon starrte zurück, sie hatte das gelernt, es war die beste Manier der Einschüchterung. Sharon bereute, dass sie die hohen Absätze trug, das schien eine Herausforderung zu sein, wahrscheinlich ging Sharon auf hohen Hacken zu tänzerisch. Du verwechselst die Straße mit dem Ballett-Studio, hatte Abel oft gesagt. Aber Abel hatte sie nie angestarrt, er liebte Sharons Gang, ihre Art, sich zu bewegen. Ja, Tanzen, Tänzerin, das wäre ein Beruf, den Sharon sich gewünscht hätte. Doch sie hatte zu spät mit dem Ballett-Unterricht angefangen, erst mit sechzehn. Da war eine richtige Ausbildung nicht mehr möglich. Dann musste Sharon zur Zahal. Sie hatte dort mit anderen Mädchen sogar eine Jazzdance-Gruppegegründet, aber Armee war eben Armee, und da war wenig Zeit zum Tanzen.
Es war Sharons schönste Erinnerung an New York, der Abend im American Ballet Theatre. Sie konnte in den Sprüngen der Tänzer die eigene Sehnsucht erleben, den Wunsch nach vollkommenem Einssein mit dem Körper. Hochgehoben zu werden, sich allein oder mit den anderen in einem Rhythmus zu bewegen, das schien Sharon eine gute Form des Daseins.
Sharon las auf dem Schild »Promenadeplatz«, sie fand den Namen schön, Promenadeplatz. Nur promenierte niemand, alle Leute rannten, genau wie in der Dizengoffstraße in Tel Aviv. Sharon ging jetzt nach links, Maffeistraße hieß es hier. Autos gab es nicht, eine Straßenbahn klingelte die Fußgänger aus dem Weg. Sharon sah sich in den Schaufenstern der eleganten Läden, sie waren viel eleganter als in Tel Aviv oder Jerusalem. Sie sah sich in den Schaufenstern in ihrem kurzen weißen Kleid, und sie wusste nicht, warum sie auffiel. Sah man ihr am Ende an, dass sie aus Israel kam, dass sie Jüdin war?
Israels Zeitungen berichteten immer wieder darüber, dass der Antisemitismus in Deutschland und noch stärker in Österreich wieder aufflamme. Dass Juden Drohbriefe bekamen, dass ihre Grabsteine zerbrochen wurden oder beschmiert, dass man jüdischen Kindern in der Schule sagte, sie würden vergast werden im KZ. Sharon konnte sich das nicht vorstellen, sie kannte auch niemanden, dem das passiert war. Dorin, die lange in München lebte und letztes Jahr mit ihrem Mann nach Tel Aviv zurückgekommen war, Dorin hatte Sharon erzählt, dass sie in den acht Jahren ihres Studienaufenthaltes, ihres Lebens in München,auch im übrigen Deutschland, niemals eine antisemitische Äußerung gehört habe. Nie, nie, nie, hatte Dorin gesagt. Obwohl sie gläubige Juden waren, am Sabbat und an allen traditionellen Festen in die Synagoge gingen.
Ein schwer deutbares Gefühl erhob sich in Sharon. Es war eine Art Übermut, ein Bewusstsein von Freiheit oder Anfang. Sie war nicht an die jüdische Tradition gebunden, sie, Sharon Weil, war an überhaupt nichts gebunden. Sie wusste noch nicht, was sie tun wollte, sie hatte keine Lust zu handeln, sie war im Moment vollkommen erfüllt von ihrem Hier und Jetzt.
Am frühen Abend, müde im Gewühl der Leopoldstraße nach einem Taxi Ausschau haltend, sah Sharon plötzlich Abel. Sie sah ihn auf der anderen Straßenseite, an der Treppe einer U-Bahn . Sie sah ihn, wollte ihn halten, schrie »Abel, Abel« und rannte über die Straße. Autos bremsten, sie fiel und schrie im Fallen Abel. Sie wollte aufstehen, Abel nachlaufen, doch sie knickte wieder ein. Passanten halfen ihr auf, der Fahrer des Wagens, bleich, setzte sie neben sich auf den Beifahrersitz, um sie ins Schwabinger Krankenhaus zu fahren. Sharon sah und hörte alles nur am Rande, sie entschuldigte sich bei dem höflichen Fahrer, der sich wiederum bei ihr entschuldigte. Schließlich sei er auch zu rasch an die Ampel herangefahren. Er schaute besorgt Sharons Bein an, es blutete am Knie und am Schienbein gar
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