Diesseits Des Mondes
nicht wenig, die Polster der Sitze bekamen Flecke, ebenso der Teppich. Es war ein schöner Wagen, ein teurer Wagen, ein Armaturenbrett wie ein Cockpit, der Fahrer hatte weiße Manschetten. Sharonwurde mit einem Mal übel. Sie war wie in Schweiß gebadet. Aber sie hatte doch Abel gesehen, sie hatte ihn wirklich gesehen, es war Abel gewesen, der tot in Beer Sheba auf dem Friedhof lag. War sie, Sharon, verrückt geworden, verrückt von dem Münchner Föhn, über den sie gelesen hatte, dass er die Menschen aggressiv mache, Entbindungen beschleunige, Herzanfälle verursache, vielleicht machte dieser Föhn auch Halluzinationen. Aber sie hatte doch Abel wirklich gesehen ... Der Fahrer des Wagens stützte Sharon die paar Schritte bis zur Ambulanz, aber Sharon knickte ständig wieder ein, so dass der Fahrer – vielleicht war er ja auch Chauffeur, denn er war sehr stark –, der Fahrer trug Sharon die letzten Meter und er hielt ihre Hand, als sie eine Tetanus-Spritze bekam und der Arzt mit eisigem Spray hantierte und es ihr gemein wehtat. Der Fahrer bestand darauf, die Behandlung zu bezahlen, und Sharon war es schließlich recht. Alles war recht, sie fühlte sich wie betrunken und konnte auch immer nur »Abel« denken und dass sie ihn finden müsse und dass sie im Hotel sofort Dorin anrufen würde, die sich auskannte in München und ihr helfen musste. Dieser Gedanke beruhigte Sharon im selben Moment, wie er ihr kam. Dorin würde ihr sagen, wie sie Abel finden könne.
Der höfliche Starke, wie Sharon den Fahrer nannte, bestand darauf, sie in den Bayerischen Hof zurückzubringen. Als er sie durch die Halle zum Fahrstuhl brachte, stand der grüßende Unbekannte des Vormittags wieder in der Hotelhalle in einer Gruppe von eleganten Leuten. Er kam sofort auf Sharon zu: »Sie sind verletzt, kann ich Ihnen helfen?« Sharon verneinte dankend und war froh, als der Lift sie nach obenbrachte. Sie musste mit dem Gedanken an Abel, mit dem Telefon, mit Dorin allein sein.
Dorin sagte nicht, dass Sharon verrückt sein müsse, sie sagte auch nichts vom Föhn, sie hörte Sharon zu. Wenn das so ist, sagte Dorin schließlich, wenn das so ist, musst du ihn eben suchen. Jetzt war es Sharon, die Dorin für verrückt hielt. Dorin, du weißt, wie groß diese Stadt ist, wo soll ich ihn hier suchen?
Du musst immer wieder zu dieser U-Bahn -Haltestelle gehen, sagte Dorin. Du kannst auch eine Anzeige aufgeben. In der
Abendzeitung
zum Beispiel, aber auch in der
Süddeutschen Zeitung.
Schreibe, dass du den jungen Mann suchst, der an diesem Freitag um 18.45 h dort gewesen ist. Du weißt doch, was geschrieben steht: Suchet ihr mich, so findet ihr mich. Rufe zu mir, so will ich dir antworten und dir große unfassbare Dinge mitteilen, die du nicht kennst.
Die Anzeige in beiden Zeitungen brachte keinen Hinweis auf Abel. Doch Sharon war erfüllt von seinem Bild. Sie sah ihn jetzt in jeder Straße der Stadt, suchte ihn in den Gesichtern der jungen Männer, die intellektuell ausgeprägt waren oder schlicht, fröhlich lachend oder in sich gekehrt, aber niemals waren sie Abel. Und im Hotel wartete jeden Tag ein frischer Strauß hellrosa Rosen von dem Eleganten aus der Hotelhalle. Sharon hatte jetzt seine Karte, ein kompliziert geschriebener Doppelname mit einem Adelsprädikat stand drauf, dafür war der Vorname leicht – Friedrich. Friedrichs Rosen gaben Sharons Zimmer eine Wochenbettstimmung.
So viel Trostrosen, Rosentrost, tröstende Rosen, rosige Tröstung, rosiges Trösten. Spiel mit den deutschen Wörtern, das erinnerte Sharon ans Goethe-Institutin Tel Aviv, wo sie oft Scrabble spielten. Unweit ihres Hotels war das Münchner Goethe-Institut in der Sonnenstraße, es gab Intensivkurse für Ausländer. Sharon schrieb sich ein. Ausländer unter Ausländern. Tagsüber ging sie durch die Straßen wie alle anderen, oder doch nicht wie alle anderen? Ihre Füße spürten den harten Asphalt, sie ging auf der Suche nach Abel immer in die gleiche Richtung, Maffeistraße, Theatinerstraße, Odeonsplatz, Ludwigstraße, Leopoldstraße. Dort, in der Nähe der U-Bahn , war ein Café, Sharons Ziel. Suchte sie immer nur Abel, oder suchte sie in den Gesichtern der Frauen auch Ruth und Großmutter? Suchte sie hinter den Fassaden der Häuser ein Zuhause? Am Tag ließ sich die Illusion einer Zugehörigkeit noch aufrechterhalten. Viele Menschen gingen oder hasteten durch die Straßen. Sharon ging oder hastete auch. Auch sie hatte ein Ziel, von dem niemand wusste, dass es
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