Diesseits Des Mondes
keines war. Auch Sharon ging, wie die anderen, auf einen Sprung ins Café, auch sie zahlte scheinbar hastig, um sich auf der anderen Seite der Straße wieder in einem Café niederzulassen. Sharon übte sich im Anpassen, sie war keine Touristin, nicht einmal die aufwendigen Schaufenster interessierten sie und auch nicht das Deutsche Museum. Wenn sie in die Neue Pinakothek wollte, dann an einem Abend in der Woche, wenn der Akademie-Professor mit seinen Studenten in den Marées-Saal ging. Der Hotelportier, dessen Tochter an der Akademie studierte, hatte Sharon davon erzählt, und sie stand an dem betreffenden Tag um sieben Uhr abends vor einer postmodernen Zwingburg zwischen wartenden Studenten. Sharon war beeindruckt vom Selbstbildnis des Malers Hans von Marées, das ihn im Alter von25 Jahren zeigte. Ein verschattetes Gesicht, ein unstetes Leben. »Ich bin da immer der steinerne Gast.« Der Professor ließ die Studenten erst lange ruhig schauen, bis er fragte, was sie sähen. Sharon stand unter den Studenten, schaute die Bilder an, es war kein Zufall, dass sie hier war, diese Bilder – Menschengruppen, in traditioneller Pose vor schwebenden Landschaften stehend, endlos übermalt, immer wieder übermalt – hatten mit ihr, Sharon, zu tun. Marées will die klassische Kunst, das Volumen, sagte der Professor, das Volumen von innen heraus. Seht euch die akademischen Akte an, sie haben in der Kunstgeschichte Tradition, das Bild hat einen platonischen Charakter, ist ein geträumter Naturzustand.
Sharon empfand sich innerhalb der Gruppe völlig beziehungslos, so wie sie innerhalb menschlicher Gruppen meist völlig beziehungslos war. Ich bin da immer ein steinerner Gast. Sharon wird wieder in diese gläserne Zwingburg gehen, die »Neue Pinakothek« heißt, neue Bildersammlung, es gibt auch eine Alte Pinakothek unter buschigen Bäumen. Sharon fühlt sich in Bildersammlungen wohl, hier kann sie sich in Jahrhunderte hineinträumen, in Glück und Schmerzen, in Rausch und in Stille. Vor allem, wenn die Räume leer sind und kühl, so wie an diesem Abend.
Es ist halb neun Uhr, die Straßen im Viertel sind leer. Diese Leere hat Sharon fürchten gelernt. Es ist, als würden sich die Menschen am Abend einigeln, sie schließen sich in ihre Häuser ein, und die Straßen gehören denen, die keine Häuser haben. Du kannst jederzeit zu mir kommen, hatte Christin gesagt. Als Sharon vor einigen Tagen wieder mal im Café Adria saß und auf Abel wartete, hatte sich Christin zu ihr anden Tisch gesetzt. Eine junge Frau, die ihr rotes Lockenhaar zu einem Strauß auf den Kopf zusammengebunden hatte, eine breite Latzhose trug. Unter den roten Locken sah Sharon ein helles, schmales Gesicht mit einer zart nach oben gebogenen Nase, die Biegung war so sanft, dass sie dem Gesicht etwas Filigranes gab, das noch dadurch bestätigt wurde, dass der Mund klein und weich war. Das Kind, das die junge Frau unter dem Arm trug wie einen Seesack, dieser Kleine hatte hellblonde Igelhaare und einen Schnuller am Band, den er sich schweigend einschob und nur zum Essen freigab. Das Eis, das die Kellnerin brachte, warf er allerdings Sharon auf den Rock, der Becher war so kippelig und so schön kühl, das Kind wollte ihn halten, selber halten. Die Mutter sah Sharon bedauernd an, beide lachten, das Kind lachte, so dass ihm der Schnuller aus dem Mund fiel. Das Kind steckte ihn, als es fertig gelacht hatte, ruhig und ernst wieder in den Mund. Ich heiße Christin, sagte die Frau, die keinen Ring trug und keinen Ehemann hatte, nicht mehr hatte. Sie war verheiratet gewesen; »gleich nach dem Abitur, wir haben das beide gewollt und wir wollten auch, dass Pablo auf die Welt kam, der nicht den Namen Pablo bekommen hätte, wenn sein hellblondes Haar damals schon zu sehen gewesen wäre«. Pablos Vater, obwohl erst Mitte zwanzig, war dabei, einen Betrieb für Messebau aufzuziehen. Der Laden lief schon gut, sagte Christin, da ist Bodo verunglückt. Er wollte auf der Autobahn einen liegen gebliebenen Wagen abschleppen und wurde überfahren. Wir hatten noch so viel Schulden, sagte Christin, und wir hatten noch gar nicht gelebt. Der Pablo war daran gewöhnt, dass ich bei ihm war, wir konnten unsdas leisten. Solange der Bodo lebte, da hat es gut gereicht für uns drei. Jetzt muss ich selber ran. Christin schaute kurz und prüfend auf Sharon. Ich arbeite in einer Bar. Tänzerin. Kannst ruhig auch Stripperin sagen. Ich gehe spätabends weg, wenn Pablo schläft, gegen vier in der
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