Diesseits Des Mondes
nach rechts in die Maximilianstraße ein. Friedrich hatte gefragt, ob Sharon das Restaurant Walterspiel in den Vier Jahreszeiten recht sei. Sharonwar das gleichgültig. Außerdem hatte sie Hunger. Und dann war ihr alles Essbare recht. Das teilte sie Friedrich mit und der lachte. Endlich mal eine Frau, die nicht Diät hält, sagte er und küsste wieder Sharons Hand.
Wie ein großes altmodisches Wohnzimmer sah die Halle des Vier Jahreszeiten aus. Als Friedrich Sharon am Arm nahm, als er sie über ein paar Stufen ins Walterspiel führte, kamen sie an einem Schaukasten vorbei, in dem edle Kinderkleidung ausgestellt war. Sharon dachte an Christin, die jetzt bald Pablo allein lassen musste, um in der Bar zu tanzen. Number Six hieß das Etablissement, es musste hier ganz in der Nähe sein, am Kosttor, Christin hatte es Sharon beschrieben. Für einen Moment wäre Sharon jetzt lieber bei Christin gewesen. Sie hatte inzwischen schon einige Male in Christins Wohnung geschlafen, damit Pablo nicht die ganze Nacht allein war. Bei Christin und Pablo in der Agnesstraße hatte Sharon sich zum ersten Mal, seit sie in Deutschland war, daheim gefühlt.
Friedrich erzählte ihr von seiner Familie, von Stahl- und Hüttenwerken, die sein Großvater aufgebaut habe. Er, Friedrich, habe auch viele Jahre im Unternehmen gearbeitet, jetzt jedoch widme er sich fast nur noch der Gemäldesammlung, die der Familie gehöre. Sharon erzählte Friedrich von ihren Dienstagsbesuchen in der Neuen Pinakothek. Sie musste aufpassen, dass sie nicht mit vollem Mund sprach, die Bouillabaisse, die sie sich als Vorspeise ausgesucht hatte, schmeckte köstlich. Sharon überlegte, ob sie von dem Knoblauchbrot nehmen sollte, das gebuttert und duftend in weißen Servietten lag. Sharon vermutete, dassFriedrich sie umarmen wollte, und obwohl sie noch nicht wusste, ob sie sich das wünschen sollte, ließ sie das Knoblauchbrot lieber liegen. Sie ließ sich von Friedrich mit Lachs-Carpaccio füttern, aß selber ein Kalbsbries auf Spinat und die halbe Saltimbocca von Friedrich. Sie hatte lange nicht so gut gegessen und sie vertraute dem Ober an, dass sie Lust auf eine große Portion Vanilleeis mit Sahne habe. Nein, nicht überbacken und nicht mit Cointreau, Vanilleeis pur. Zwischendurch fragte Sharon Friedrich, warum er sie eingeladen habe. Wenn ihn diese Frage verwunderte, zeigte er es nicht. Sachlich sagte er, weil Sie aussehen wie die Frauen auf den Bildern von Delacroix.
Sharon dachte, dass Friedrich vor vierzig Jahren wohl ungefähr so alt gewesen war wie sie, Sharon, jetzt. Dass er wahrscheinlich nur wenige Jahre jünger war als Großmutter, wenn sie noch lebte. Friedrich könnte ihr Großvater sein. Im selben Moment sprach er diesen Gedanken aus: Ich weiß, ich könnte Ihr Großvater sein. Tauschen wir also die Jahrgänge aus, sagte Sharon eislöffelnd. Ich bin 1964 geboren, und Sie? 1927, sagte Friedrich lächelnd. Nun, dann könnten Sie nicht mein Großvater sein, eher schon mein Vater. Der wäre ich mit Vergnügen, sagte Friedrich. Ich habe keine Tochter, allerdings könnte ich nicht garantieren, dass ich das Inzest-Tabu respektieren würde. Zum Übertreten gehören aber zwei, erinnerte Sharon. Eben, sagte Friedrich.
Sharon spürte, dass sie einen Schwips hatte. Zu Beginn des Essens ein trockener Sherry, dann wie viele Gläser Chablis? Jedenfalls war es Sharon, als bade sie in Friedrichs Wohlhabenheit. Die Kellner umtanzten sie, andere Gäste schauten diskret. Friedrich fragteSharon, ob sie nicht umziehen wolle ins Palais Montgelas, er würde gern für sie etwas reservieren lassen. Es ist eine wirklich hübsche Suite, sagte Friedrich, ein kleines Studio auf zwei Ebenen, da würden Sie sich wohlfühlen. Als Sharon kühl sagte, dass sie bald ausziehen werde aus dem Hotel, schwieg Friedrich sekundenlang und sprach dann über seine Wohnung in Bogenhausen. Er träfe sich oft mit Leuten im Bayerischen Hof, so aus Tradition, und er beglückwünsche sich jetzt, dass er diese Tradition nicht aufgegeben habe.
Sharon spürte eine unbestimmte Zärtlichkeit für Friedrich. Vielleicht galt diese Zärtlichkeit auch den weichen Teppichen, auf denen sie ging, den Kellnern, die sie umsorgten, ganz gewiss galt sie der Bouillabaisse, dem Vanilleeis und der Illusion einer Sicherheit und Sorglosigkeit, die Sharon sonst nicht kannte. Sharon war noch niemals sorglos und sicher gewesen, jedenfalls nicht, seit sie denken konnte. Und sie hatte gelernt, dass sie für Illusionen zu zahlen
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