Diesseits Des Mondes
hatte. Die Währung war unterschiedlich, der Preis immer gleich.
Die schönste Illusion, die Sharon sich vorstellen konnte, die sie sich auch immer wieder kaufen konnte, war das Erleben der Schwerelosigkeit im freien Fall. Sie war inzwischen süchtig danach. Nach dem Sprung aus dem Flugzeug, nach dem Fall ins Nichts ohne Atem und ohne Gefühl, nur du und das Nichts, dreißig Sekunden lang, das ist berechnet, wie jede Illusion mathematisch berechenbar ist. Aber in dem Moment weißt du das nicht, du fühlst nur dich. Die Luft ist eine Hülle aus Stahl, dann öffnet sich über dir der Schirm, du hörst deinen Puls in den Schläfen, greifst in die Steuerschlaufen und schaust nach unten, versuchst,die Landezone zu finden, langsam dreht sich der Schirm in der totalen Stille, unfassbares Alleinsein, minutenlang, dann gehst du dem Boden entgegen, sanft und leicht, hinter dir sinkt raschelnd der Schirm.
Hatte sie es Friedrich erzählt, oder sich selber? Jedenfalls hörte Friedrich mit interessiertem Lächeln zu. Und sie erzählte ihm weiter, dass sie in Israel Fallschirmspringen gelernt habe. Bei der Zahal durften die weiblichen Soldaten nur Schirme zusammenlegen, Sharons Mutter war noch im Fallschirmspringen ausgebildet worden, doch das gab es nur in der Pionierzeit der israelischen Armee. Wie sehr hatte Sharon das bedauert, die Jungen beneidet, die eine Fliegerausbildung bekamen. Wie Abel. Er hatte die Fallschirmspringerlizenz, war in Israel und in den USA ausgebildet worden. Da es bei der Zahal keine Erlaubnis gab, lernte Sharon beim Aero-Club Tel Aviv Fallschirmspringen. Niemals hatte sie so gern gelernt. Dauerlaufen, Landefalltraining, Üben am Hänger, das Zusammenlegen des Schirms waren Sharon längst vertraut. An einem Sonntag wurde sie zum ersten Übungssprung eingeteilt. Abel, der die Leute vom Aero-Club kannte, durfte als Sprunglehrer mitfliegen. Er und Oren, der zweite Lehrer, schauten Sharon immer wieder aufmunternd an. Das Absetzflugzeug stand bereit. Aaron, der Pilot, stieg ein. Good luck, sagte er und gab Sharon einen kleinen Klaps. Dann ließ er den Motor an. Abel, Oren und Sharon kletterten in die Maschine, der Vogel hob ab. Sharon spürte ihr Herz klopfen, es war, als habe sich Sharons Herz in ihren Hals verlagert, dort klopfte es, Sharon wollte es hinunterschlucken, doch das ging nicht. Da nahm Abel ihre Hände, Sharon spürte, dass sie eiskalt waren. Abel lachte einstrahlend-liebevolles Lächeln, auch Oren war ihr ganz nah, und Sharons Angst, die ihr fast die Luft abschnüren wollte, diese Angst legte sich. Sharon rutschte wie Abel und Oren zur Tür, die beiden nahmen sie in die Mitte, hielten fest die Hände auf Sharons Schultern. Sharon wusste, gleich mussten sie springen, und da kam auch Aarons Kommando: »Go!«, und die beiden Männer sprangen mit ihr, hielten sie fest, Sharon spürte ihre Hände, sie sah das Lachen der beiden, fühlte den rasenden Fall. Sie versuchte, den Kopf in den Nacken zu legen, ein Hohlkreuz zu machen, doch gab ihr Abel schon das Zeichen, jetzt musste sie die Reißleine ziehen. Abel und Oren hielten sie noch so lange fest, bis ihr Schirm offen war, sie sanft in die Vertikale zog. Jetzt ließen Abel und Oren sie los, sie fielen an Sharon vorbei, jetzt öffneten sich auch ihre Schirme und alle drei glitten sanft dem Boden entgegen. Abel und Oren umarmten Sharon, lobten sie, gratulierten ihr. Auch die anderen vom Club beglückwünschten Sharon. Erstflieger hatten die Sympathie aller – jeder war einmal zum ersten Mal geflogen, jeder hatte es anders und einmalig erlebt, jeder erzählte davon. Sharon konnte ihre Freude mit den anderen teilen.
Friedrich sagte, dass es ihn bei Sharon nicht überrasche, dass sie auch noch vom Himmel springe. Und er kenne unweit von München einen Fallschirmsportclub, wo Sharon jederzeit springen könne. Doch Sharon wusste, dass sie sich diese Illusion von Freiheit und Gelöstheit, vom Fallenlassen ohne Gefahr nicht mehr leisten konnte. Sie durfte jetzt kein Geld mehr ausgeben, sie musste welches verdienen. Doch das sagte sie nicht.
Als Sharon mit Friedrich nach dem Essen in Harry’sBar ging, waren ihre Gedanken immer noch in ihrem früheren Leben. War sie damals glücklich gewesen und hatte es nur nicht gewusst? Jetzt, in ihrem neuen Dasein in dieser Stadt schien es ihr, als schwinde der Boden ihrer Existenz, sie sah ihre Zukunft wie durch ein umgekehrtes Fernrohr, durch ein langes Objektiv, bei dem man am Ende das Objekt winzig klein sieht.
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