Diesseits Des Mondes
Schuld, loyal gegenüber der Familie – und er? Krug konnte nicht mehr dasitzen und seine Rolle spielen, er stand auf, rannte raus, lief zum Canaletto hinunter, rannte, bis ihm vor Atemnot schlecht wurde. Er wollte sich Liddy aus dem Leib rennen, aber er war verstrickt, er begehrte sie gegen jede Vernunft, er hätte, so wie er war, in die Destouchesstraße rennen mögen, er wusste nicht mehr, ob ihm Schweiß oder Tränen übers Gesicht rannen.
Im Lauf der Zeit hatte es mehrere Liddys gegeben, die ihn jedoch nur noch tangierten, nicht mehr bedrohten. Birke und er entfernten sich immer mehr voneinander. Zwar gab es durchaus Augenblicke demonstrativer Gemeinsamkeit, wenn sie Freunde besuchten oder von Freunden besucht wurden. Wenn sie als Eltern auftraten oder als Familie. Dabei konnten sie Freude daran empfinden, Arm in Arm zu gehen, einer beim anderen eingehängt spielten sie das Verliebtenspiel, das vorzüglich inszeniert war und so lange gut ging, bis einer von beiden zu viel getrunken hatte. So war Birke an einem ihrer Geburtstage nachts um vier in den Armen von Freunden zusammengesunken, weinend, Krugs Untreue verfluchend, seine Egotrips, dies Wort war damals in Mode, seine Beziehungskisten.
Die Freunde, von denen der eine oder andere schonmanchmal dem offensichtlichen Dauerglück der Krugs misstraut hatte, waren nun doch schockiert vom Ausmaß des Elends, das sich ihnen in Birke bot. Krug saß dabei, stocknüchtern, ihm hatte heute das Bier nicht geschmeckt, und etwas anderes hatte es nicht gegeben, stocknüchtern saß er da und machte nicht einmal den Versuch, Birke zu beschwichtigen. Er beneidete sie sogar um ihren Mut, um ihre Offenheit, ja, er beneidete sie um die Wut und den Schmerz, den sie empfinden konnte, was ihn im Übrigen völlig überraschte. Er hatte geglaubt, auch Birke könne gleich ihm nichts mehr empfinden, auch sie liebe nur sich selbst und sonst niemanden.
Damals hatten sie monatelang, oder war es bereits jahrelang, nicht mehr miteinander geschlafen. Es schien Krug, als sei Birke mittlerweile auch ohne ihn komplett. Ihm, Krug, kam es tatsächlich so vor, als schwebe Birke, als hebe sie immer ein wenig ab vom Boden. Ihre Augen hatten etwas so Waches, Neugieriges, dass Krug, wenn er muffig daheim saß, richtiggehend von Birke aufgescheucht wurde. Birke lernte ständig neue Menschen kennen, im Flugzeug, in der Bundesbahn, in Konzerten. Diese Leute lud sie konsequent nach Hause ein, so dass Krug sich auf diese Weise mit Collegeboys aus Boston konfrontiert sah, mit einem blinden Inder aus Neu-Delhi, kurz darauf kam eine vierfach geliftete Millionärin aus Kapstadt an. Die Krugs hatten dank Birkes nie erschöpfter Neugier Freunde in Schottland und Calgary, in St. Moritz und in der Lübecker Bucht. Birke verhalf den Leuten zu Wohnungen und Jobs in München, sie hatte mit Hilfe anderer Redaktionen innerhalb von fünfzehn Jahren ein feines Netz von Verbindungenund Stützpunkten aufgebaut, das sich immer wirkungsvoller verästelte und aus dem es besonders in den Abend- und Nachtstunden funkte und morste. Birke hatte sich, so dachte Krug, längst ohne ihn eingerichtet. Daher traf es ihn umso mehr, als er einen anonymen Brief bekam:
Die Menschen, die nach Liebe suchen, beweisen nur, dass sie ohne Liebe sind, und die ohne Liebe sind, werden niemals Liebe finden, nur die Liebenden finden Liebe und haben nicht nötig, sie zu suchen.
D. H. Lawrence
Als Mauritz achtzehn Jahre alt wurde, bat Birke Krug um die Scheidung. Und er, Krug, hatte nur mit den Schultern gezuckt.
7
Sharon rief in der Kanzlei von Dr. Ferdinand Dietl an und bat um einen Termin. Die Sekretärin fragte zurück und sagte dann ausgesucht höflich, dass Sharon bitte gleich um 15.00 Uhr kommen solle. Sharon dachte an Alexander, vielleicht hatte sie, bis er zurückkam, einen seriösen Job. Es war Sharon, als könne sie das vergangene Jahr, das Number Six, auch Friedrich, dem sie die Wahrheit über Alexander gesagt hatte, als könne sie alles hinter sich zurücklassen wie ein Schiff, das stromaufwärts fährt. Alexander hatte Sharon einen Eilbotenbrief geschrieben, den sie ständig bei sich trug. Ein Polaroid hatte dem Brief beigelegen, auf dem standen zwei Zahnbürsten, aufrecht im Glas, die Borsten aufeinandergedrückt wie in einem nicht endenden Kuss. Alexander schrieb auf den Bildrand: Ich habe sie erwischt, als ich vom Bahnhof zurückkam! Alexander schrieb außerdem: Du bist gegangen, Liebste, und der Herbst ist
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