Diesseits Des Mondes
Gedanken um Dietl heraus. Sie, Sharon, umarmte die Freundin, drückte Pablo immer wieder fest an sich. Sie setzten den Kleinen in den Buggy, gingen am Kanal entlang zum Schloss und in den Park. Der grüngoldene Glanz, die Sonnenkringel auf den Blättern, die Schwäne und Enten, das nun schon vertraute Bild beruhigte Sharon. In einem hatte Dietl recht. Sie, Sharon, war eine Soldatin, keine Tänzerin. Sie hatte fast vergessen, dass sie sich wehren konnte. Ihre Liebe zu Alexander hatte sie für einen Moment schwach gemacht. Sie, Sharon, würde nicht länger die Illusionen verletzter Existenzen nähren, sie würde schon gar nicht für die verlorenen Träume Friedrichs oder Dietls geradestehen. Sie wollte mit Alexander leben, er sollte ihre, Sharons, Geschichte werden, nur er.
Christin konnte auch nicht länger im Number Six bleiben. Es ist wie Sippenhaft, sagte Christin. Niemand redet mit mir. Ich musste gestern nicht mal auftreten. Anschi, Marina, Biggi und Traudl traten hintereinander auf, dann die Neue vom Felngruber, Patty, ein Mischlingsmädchen aus Ingolstadt. Sie tanzte dreimal, für mich blieb gar keine Zeit für einen Auftritt, sagte Christin. Ganz klar, die wollen mich jetzt rausekeln. Aber das können sie haben, für ein paar Wochen reicht mein Geld, ich finde schon Arbeit, und wenn ich Nachtwache im Altersheim mache.
Sharon und Christin lachten, Pablo lachte mit. Seine Welt war Christin, noch war sie ihm groß genug, noch glaubte er nichts zu entbehren. Er freute sich über die Steine am Weg, die er einzeln betrachtete, erfreute sich über die Enten, die Pusteblume, die Sharon für ihn abblies. Pablo war noch ganz Gefühl. Er spürte, wenn die Mutter müde war oder traurig. Dann wurde Pablo unruhig, dann meldete sich sein Instinkt, und wenn er dann der Katze Ginger, »Schinscha«, auf den Schwanz treten wollte und Christin oder Sharon es ihm verwehrten, dann ließ er für eine Weile davon ab, um plötzlich der Katze einen derben Puff zu geben. Die Predigten, die Christin ihm hielt, stand er mit niedergeschlagenen Augen durch, ab und zu blinzelte er nach oben, um zu sehen, ob die Mutter fertig war mit der Strenge. Für lange war er wieder lieb mit der Katze. Schinschalein, eia.
Zurück im Haus, krabbelte Pablo selbstständig und laut räsonierend die Treppe hinauf. Krugs Mütter waren von Pablos Liebreiz überfordert, sie konnten ihre vorsichtige Zurückhaltung nicht länger durchhalten. Beide Damen standen im Flur und bewunderten das Kind, das blonde, blauäugige. Sharon musste an Danda und Mauritz denken, dass sie die beiden Damen Nazi-Oma nannten, Nazi-Oma und Turbo-Nazi-Oma. Ob die Damen das wussten? Sie schienen unbefangen, brachten Selbstgebackenes, boten Tee an, falls Sharon noch keinen vorrätig habe, was in der Tat so war.
Später brachte Sharon Christin und Pablo zum Auto, half, den Kleinen in seinem Sitz auf der Rückbank anzuschnallen. Als sie ins Haus zurückkam, die Treppe hochging, öffnete sich im ersten Stock leise die Tür. Die Nazi-Oma, die, von der Danda sagte, dass sie gaga sei, huschte heraus. Sie fasste Sharon am Arm, flüsterte, dass sie wisse, was ihre Enkel über sie sagen, sie sei aber gar nicht in der Partei gewesen. Ihr Bruder,ja, ein hohes Tier, engster Mitarbeiter von Speer, ja, aber sie, Klara Heydorn, doch nicht. Wohl die Helene, Frau Heydorn wies auf die Tür, die Helene da drinnen, ja, sie war eine Nazisse, aber auch sie hat niemals was gegen die Juden gehabt, glauben Sie mir das, Frau Weil, niemals. Die Juden sind tüchtige Leute, Wissenschaftler sind sie, Nobelpreisträger. Meine Enkel – glauben Sie denen nicht, Frau Weil, sie sind schlecht erzogen, meine Tochter ist zu weich, auch zu weich für den Micha ...
Bei ihren letzten Worten hatte Frau Heydorn immer wieder zur geöffneten Tür gelauscht, jetzt rief Frau Krug drinnen »Klara«, und mit verschwörerischem Lächeln huschte Klara Heydorn lautlos zurück in die Wohnung.
Sharon ging die Treppe hinauf, räumte in ihrem Wohnzimmer ein paar Bücher und Platten ins Regal und gab den Blumen, die diesmal von Krug stammten, frisches Wasser. Konnte Sharon diese beiden alten Frauen da unten in Zusammenhang bringen mit den sechs Millionen Juden, die von den Nationalsozialisten umgebracht worden waren? Konnte sie sie verantwortlich machen für die Bilder, die sie in Yad Vashem in Jerusalem gesehen hatte? Mit den Erzählungen der Überlebenden in Israel?
Sharon öffnete das Fenster, das zur Straße ging. Ein altes
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