Diesseits Des Mondes
Ehepaar ging vorbei, Hand in Hand, die Frau geduldig sich dem Schritt des offenbar kranken Mannes anpassend. Hatte sie Hitler zugejubelt und Himmler Briefe geschrieben? War er ein S S-Arzt gewesen? Auf der anderen Straßenseite sah Sharon drei Kinder. Ein etwa zehnjähriger Junge, hellblond, zog einen hölzernen Wagen, in dem ein ebenfalls hellblondesMädchen saß und eines mit schwarzen Zöpfen und olivfarbener Haut. Sharon wusste von Krug, dass in der Gerner Straße eine jüdische Familie mit drei Kindern lebte. Vielleicht war das dunkelhaarige Mädchen ein jüdisches Kind. Unter dem Nazi-Regime hätte dieses Kind nicht mit den blonden Kindern spielen dürfen.
Plötzlich musste Sharon an Julie denken, an ihre Schilderungen der Schikanen, denen sie ausgesetzt war, wenn sie sich punkig ausstaffierte. Was wäre, wenn die Juden wieder einen gelben Stern trügen?
Ob sie dann jeder Taxifahrer mitnähme? Ob sie dann nicht auch beim Obsteinkaufen angepöbelt würde wie neuerdings wieder Juden in Wien? Sharon hatte auf einem Foto einen chassidischen Juden mit Peies und Bart gesehen, der in Wien von Passanten beleidigt wurde.
Es klopfte, und Krug fragte, ob er auf einen Whisky reinkommen dürfe. Er hatte seinen Chivas Regal unterm Arm und berichtete Sharon, dass er gemeinsam mit Julie an seiner Punk-Reportage arbeite. Julie habe für ihn Kontakte hergestellt zu zwei Punk-Mädchen und drei Jungen, die sie jetzt gemeinsam besuchen wollten. Sharon, die sich vor allem für Julie interessierte, fragte Krug, ob sie nicht mitkommen könne. Diese Woche habe sie Zeit, am kommenden Montag finge sie in der Redaktion, in der Birke arbeitete, als Assistentin in der Bildbeschaffung an. Wenn ich mit Ihnen und Julie mitkommen kann, muss ich vielleicht nicht dauernd an Alexander denken, sagte Sharon, und – es erinnert mich daran, dass ich manchmal meine Mutter zu Interviews begleitet habe.
Noch am gleichen Abend holten sie Julie ab und fuhren ins Scum, einen Punk-Treff, in dem Julie manchmal verkehrte. Julie hatte ihre Augen mit floralen Mustern schwarz ummalt, in jedem Ohr baumelten mehrere Ringe, Kreuze und Steine. Julies Hände waren über und über beringt, das tiefschwarze Haar zu einer steilen Mähne auftoupiert, die Julies hell geschminktes Gesicht seltsam klein und kindlich erscheinen ließ. Sharon dachte, dass Julie so schön war, dass keine Verkleidung sie verzerren konnte.
Im Scum war es Sharon, als käme sie in eine Höhle, die von grellen Scheinwerfern ausgeleuchtet war für eine Filmszene. Die Schauspieler hatten fast alle die Köpfe rasiert, Sharon sah Blutspuren auf Schädeln, von bunten Haarbüscheln verspottet. »Hass« stand in aggressiv wirkenden Lettern auf meist schwarzen Lederjacketts. War es wirklich Hass, was die nietenbewehrten, kettengeschmückten Irokesenhäuptlinge sich abwenden oder die Neuankömmlinge feindlich anblicken ließ? Sicher wirkten Sharon und Krug wie gehorsame Mitglieder der Gesellschaft, von der die Punks sich zumindest optisch absetzen wollten. Einzig Julie passte in die Szene, und sie bewegte den bunt gefiederten Kellner, ihnen Getränke zu bringen.
Julie war verabredet mit Andrea, die sich jetzt zu ihnen an den Tisch setzte. Andrea hatte eine schmale flammend rote Bürste auf ihrem glatt rasierten Schädel, an dem die Ohren nicht wenig abstanden, Ohren, von einer Menge Sicherheitsnadeln durchstochen. Wenn Sharon hinsah, fror sie. Andrea mochte sechzehn sein, ein großes Mädchen, ihr Gesichtsausdruck war gleichzeitig intelligent und verzweifelt. Die Brauen über den dunklen Augen waren faustisch nachoben gemalt, unter den Augen lief ein breiter, schwarzer Balken zum Ohr hin aus. Weißt du, sagte Andrea zu Sharon, weißt du, früher war ich Müsli. Da bin ich nach Wackersdorf gegangen und hab mich verdreschen lassen. Heut glaub ich nicht mehr, dass sich dadurch etwas verändert. Heute verändere ich mich.
Sharon fragte, was denn Müsli sei. Andrea sah Julie drohend an: Wo kommt denn die her? Julie, Andrea fixierend: Aus Israel. Sofort stand Andrea auf. Ihr Gesicht, das trotz der Massakrierung offen gewesen war, wurde abweisend und kalt: Ganz schön beschissen, was ihr da im Libanon macht. Früher fand ich euch ja toll, ich wollte unbedingt mal in einen Kibbuz, aber jetzt, Scheiß-Imperialisten!
Julie sah Sharon herausfordernd an: Ich kapier auch nicht, was bei euch läuft. Früher, da dachte ich auch, die Juden, das sind verfolgte Unschuldige, wieso lässt man die nicht in Ruhe,
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