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Diesseits vom Paradies

Diesseits vom Paradies

Titel: Diesseits vom Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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dunkle, nach Moder riechende Allee hinein. Er schlängelte sich durch die endlose, vielfach gewundene Finsternis, in der kein Mondlicht schien, bis auf ein paar glitzernde Flecken… dann sank er plötzlich keuchend, völlig erschöpft, in einer Ecke dicht neben einem Zaun zusammen. Die Schritte vor ihm hielten inne, und er hörte, wie sie ihn unablässig umkrochen – wie Wellen einen Kai umspülen.
    Er vergrub das Gesicht in den Händen und bedeckte Augen und Ohren, so gut er konnte. Die ganze Zeit über kam ihm nie der Gedanke, er könnte im Delirium sein oder betrunken. Seine Wahrnehmung der Realität war so geschärft, dass sie ihn weit über Materielles erhob. Sein geistiges Fassungsvermögen schien sich nicht dagegen zur Wehr zu setzen, und es fügte sich so haargenau in alles vorher Erlebte, dass es ihn nicht im mindesten verwirrte. Es war wie ein Problem, dessen Antwort er theoretisch kannte, praktisch jedoch nicht zu lösen wusste. Er war völlig jenseits des Entsetzens. Durch die dünne Oberfläche des Schreckens war er tiefer eingesunken und bewegte sich jetzt in einem inneren Bereich, wo die Füße und die Angst vor weißen Mauern wirkliche, lebendige Dinge waren, Dinge, deren Wirklichkeit er anerkennen musste. Nur ganz tief innen in seiner Seele loderte ein kleines Feuer und warnte ihn vor der Gefahr, niedergezogen und durch eine Tür gezerrt zu werden, die hinter ihm zuschlagen würde. Und war diese Tür erst einmal zu, dann gab es nur noch das Geräusch von Schritten und die weißen Gebäude im Mondlicht, und vielleicht würde er einer der Schritte sein.
    [173] Während der fünf oder zehn Minuten, die er im Schatten des Zaunes wartete, war dieses Feuer irgendwie in ihm… genauer konnte er es später nicht beschreiben. Er erinnerte sich, laut gerufen zu haben:
    »Ich will einen Dummkopf. Schickt mir doch einen Dummkopf!« Und dies zu dem Zaun ihm gegenüber, in dessen Schatten die Schritte schlurften… und schlurften. Er vermutete, dass »dumm« und »gut« sich durch Assoziationen von früher irgendwie vermischt hatten. Doch als er dies rief, war es kein Akt seines Willens – der Wille hatte ihn von der sich auf der Straße bewegenden Gestalt fortgetrieben; es war eher Instinkt, der da rief, einfach angehäufte, eingefleischte Tradition oder ein wildes Gebet von weit her aus der Nacht. Dann ertönte ein Geräusch wie ein in der Ferne angeschlagener tiefer Gong, und vor seinen Augen blitzte ein Gesicht über den beiden Füßen auf, bleich und verwüstet, in dem das absolute Böse flackerte wie eine Flamme im Wind; dennoch wusste er im Bruchteil jener Sekunde, da der Gong ertönte und dröhnte, dass es das Gesicht von Dick Humbird war.
    Minuten später sprang er auf die Füße; allmählich dämmerte ihm, dass kein Geräusch mehr zu hören war und dass er allein in der langsam grau werdenden Allee stand. Es war kalt, und er lief in gleichmäßigem Trab auf das Licht zu, das am anderen Ende der Straße zu sehen war.
    [174] Am Fenster
    Es war schon später Vormittag, als er erwachte, weil das Telefon neben seinem Bett im Hotel wie wild klingelte, und ihm fiel wieder ein, dass er gebeten hatte, um elf geweckt zu werden. Sloane schnarchte fürchterlich, seine Kleider lagen auf einem Haufen vor seinem Bett. Sie zogen sich an und frühstückten schweigend und schlenderten dann hinaus an die frische Luft. Amorys Gedanken kamen nur langsam in Gang, versuchten nachzuvollziehen, was eigentlich geschehen war, und aus den chaotischen Bildern, die sein Gedächtnis bevölkerten, die dürftigen Fetzen Wahrheit auszusortieren. Wäre der Morgen kalt und grau gewesen, hätte er das Vergangene schnell wieder in den Griff bekommen, doch es war einer jener Tage, wie es sie in New York im Mai manchmal gibt, an denen die Luft über der Fifth Avenue wie ein Hauch von lieblichem, leichtem Wein ist. An wie viel oder wie wenig Sloane sich entsinnen konnte, wollte Amory nicht wissen; offensichtlich litt er jedoch nicht unter jener nervösen Spannung, die Amory gepackt hielt und sein Bewusstsein hin und her trieb, wie die Bewegung einer kreischenden Säge.
    Dann brach der Broadway über sie herein, und das wilde, lärmende Durcheinander und die geschminkten Gesichter verursachten Amory plötzlich Übelkeit.
    »Um Himmels willen, lass uns umkehren! Weg von diesem – diesem Ort hier!«
    Sloane sah ihn erstaunt an. »Was ist los mit dir?«
    »Diese Straße – sie ist widerwärtig! Komm schon! Gehen wir zurück auf die

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