Diesseits vom Paradies
stickiger Luft gearbeitet hatte. Amory sah ihn sich genau an, und später hätte er ihn in allen Einzelheiten zeichnen können. Er hatte jenen Zug um den Mund, den man offen nennt, sehr ruhige graue Augen, die langsam von einem zum anderen in ihrer Gruppe wanderten, mit einem leicht fragenden Ausdruck. Amory fielen seine Hände auf; sie waren keineswegs fein, doch sehr beweglich und nicht sehr kraftvoll… es waren nervöse Hände, die leicht auf den Kissen lagen und ständig in Bewegung waren, sich ruckweise öffneten und wieder schlossen. Plötzlich bemerkte Amory seine Füße; das Blut schoss ihm in den Kopf, und ihn überkam Angst. Mit den Füßen stimmte etwas nicht… etwas, das er eher ahnte als erkannte… Es war etwas wie die schwache Seite einer ehrbaren Frau oder Blut auf Satin; eine dieser grauenvollen Ungereimtheiten, die weit hinten in unserem Bewusstsein irgendetwas durcheinanderbringen. Er trug keine Schuhe, sondern eine Art Mokassins, die jedoch vorne spitz zuliefen wie die Schuhe, die man im vierzehnten Jahrhundert trug und deren schmale Enden sich nach oben bogen. Sie waren von schwärzlichem Braun, und seine Zehen schienen sie bis in die Spitzen hinein auszufüllen… Sie waren unaussprechlich schrecklich…
Er musste etwas gesagt oder verstört dreingesehen haben, denn aus der Leere drang seltsam gutmütig Axias Stimme an sein Ohr.
[170] »He, schaut euch Amory an! Dem armen alten Amory geht’s nicht gut – dreht sich’s dir im Schädel?«
»Schaut euch den Mann an!«, schrie Amory und zeigte auf das Ecksofa.
»Du meinst wohl das lila Zebra!«, kreischte Axia lustig.
»Oje! Ein lila Zebra hat’s auf Amory abgesehen!«
Sloane lachte, ohne irgendwas begriffen zu haben.
»Hat dich ’s olle Zebra erwischt, Amory?«
Schweigen… Der Mann betrachtete Amory spöttisch… Dann drangen erneut menschliche Stimmen schwach an sein Ohr: »Hab gedacht, du hättest nichts getrunken«, bemerkte Axia höhnisch, doch es tat gut, ihre Stimme zu hören; der ganze Diwan, auf dem der Mann saß, war lebendig; lebendig wie Hitzewellen über Asphalt, wie durcheinanderwimmelnde Würmer…
»He, komm zurück! Komm zurück!« Axias Arm legte sich auf seinen. »Amory, Süßer, du willst doch nicht schon gehen!« Er war auf halbem Weg zur Tür.
»Komm, Amory, bleib bei uns!«
»Ist dir schlecht?«
»Setz dich ’n Moment!«
»Trink ’n Schluck Wasser.«
»Trink ’n kleinen Brandy…«
Der Aufzug war schnell zur Stelle, der farbige Liftboy, dessen Haut zu einem fahlen Bronzeton verblichen war, schlief schon fast… Axias flehende Stimme verlor sich im Schacht. Diese Füße… diese Füße…
Als sie im Erdgeschoss ankamen, wurden die Füße im matten elektrischen Licht auf dem Steinboden des Eingangs sichtbar.
[171] In der Allee
Der Mond beschien die lange Straße, und Amory drehte ihm den Rücken zu und ging. Zehn, fünfzehn Schritte entfernt das Geräusch der Füße. Die Schritte fielen langsam hernieder, wie ein leises beharrliches Tröpfeln. Amorys Schatten lag vielleicht drei Meter vor ihm, und die weichen Schuhe waren vermutlich ebenso weit hinter ihm. Mit dem Instinkt eines Kindes drängte sich Amory in das blaue Dunkel der weißen Gebäude, tauchte für Sekunden verstört im Mondschein auf, verfiel einmal in leichten Laufschritt und stolperte ungeschickt. Dann blieb er unvermittelt stehen; er musste die Oberhand behalten, dachte er. Seine Lippen waren trocken, und er fuhr mit der Zunge darüber.
Wenn er nur einen guten Menschen träfe – gab es überhaupt noch gute Menschen auf der Welt, oder lebten sie jetzt alle in weißen Apartmenthäusern? Wurde jedermann im Mondlicht verfolgt? Doch wenn er einen guten Menschen träfe, der verstand, was er meinte, und der dieses verdammte Schlurfen hörte… Dann kam das Geschlurfe plötzlich näher, und eine schwarze Wolke breitete sich über den Mond. Als die Simse wieder von dem matten Glanz beschienen wurden, war es beinahe neben ihm, und Amory glaubte, ruhige Atemzüge zu vernehmen. Plötzlich wurde ihm klar, dass die Schritte nicht hinter ihm waren, nie hinter ihm gewesen waren, sondern vor ihm, und dass er nicht vor ihnen floh, sondern ihnen folgte… er folgte ihnen. Er begann zu rennen, blindlings, mit wild schlagendem Herzen und verkrampften Händen. Weit vor ihm tauchte ein schwarzer Fleck auf, wurde langsam zu einer menschlichen Gestalt. [172] Doch Amory war schon jenseits davon; er bog von der Straße ab und rannte wie der Blitz in eine enge,
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