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Diesseits vom Paradies

Diesseits vom Paradies

Titel: Diesseits vom Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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hältst du’s mit der Religion?«, fragte ihn Amory.
    »Weiß nicht. Bei vielen Dingen sehe ich noch nicht klar –ich habe eben erst entdeckt, dass ich einen Verstand habe, und fange gerade erst an zu lesen.«
    »Was zu lesen?«
    »Alles. Natürlich muss ich mir Einzelnes herauspicken und auswählen, aber das meiste sind Sachen, die mich zum Nachdenken bringen. Ich lese gerade die Evangelien und The Varieties of Religious Experience. «
    »Wer hat dich vor allem darauf gebracht?«
    »Wells und Tolstoi, denke ich, und ein Mann namens Edward Carpenter. Ich lese jetzt seit mehr als einem Jahr – in ein paar Richtungen, die ich für die wichtigsten halte.«
    »Gedichte?«
    »Offen gestanden, sicher nicht das, was ihr unter Dichtung versteht, und sicher aus anderen Gründen als ihr – ihr schreibt selbst und seht die Sache anders. Wer mich wirklich interessiert, das ist Whitman.«
    »Whitman?«
    »Ja. Er hat ganz entschieden eine ethische Kraft.«
    »Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich von Whitman keinen Schimmer habe. Wie ist’s mit dir, Tom?«
    Tom schüttelte nur unwissend den Kopf.
    »Na ja«, fuhr Burne fort. »Natürlich gibt es auch ein paar Gedichte, die ziemlich nichtssagend sind, aber ich meine [185] sein Werk im Ganzen. Er ist einfach großartig – wie Tolstoi. Beide sehen den Dingen ins Gesicht und treten irgendwie, so verschieden sie sind, für dieselben Dinge ein.«
    »Du machst mich sprachlos, Burne«, gab Amory zu. »Ich hab natürlich Anna Karenina und Die Kreutzersonate gelesen, aber soweit ich das sehe, kann man Tolstoi nur im russischen Original wirklich verstehen.«
    »Er ist der größte Mann seit Jahrhunderten«, rief Burne voller Begeisterung. »Habt ihr mal ein Bild von diesem struppigen alten Charakterschädel gesehen?«
    Sie redeten bis drei Uhr morgens, von der Biologie bis zur organisierten Religion, und als Amory endlich fröstelnd ins Bett kroch, glühte ihm der Kopf vor neuen Ideen und einem leisen Erschrecken darüber, dass ein anderer den Pfad entdeckt hatte, dem er hätte folgen sollen. Burne Holiday war so offensichtlich auf dem Weg nach oben – und Amory hatte von sich dasselbe angenommen. Er war in tiefen Zynismus verfallen über all das, was bisher seinen Weg gekreuzt hatte; er hatte die Unvollkommenheit des Menschen als gegeben hingenommen und genügend Shaw und Chesterton gelesen, um seinen Geist vor dem Abkippen in die Dekadenz zu bewahren – und auf einmal schienen all seine Gedankengänge der vergangenen eineinhalb Jahre abgestanden und nutzlos… ein engstirniger Selbstbetrug… und als düsterer Hintergrund belastete ihn noch immer der Vorfall vom letzten Frühjahr, der ihn halbe Nächte lang in Furcht und Schrecken versetzte und es ihm unmöglich machte zu beten. Er war nicht einmal Katholik, dennoch war dies der einzige Anhaltspunkt eines Kodex, den er in sich hatte – der prunksüchtige, ritualistische, paradoxe Katholizismus, als dessen [186] Prophet Chesterton auftrat, dessen Beifallsspender solche bekehrten Wüstlinge der Literatur wie Huysmans und Bourget waren und dessen amerikanischer Gönner Ralph Adams Cram mit seinen Lobhudeleien auf die Kathedralen des dreizehnten Jahrhunderts war; ein Katholizismus, den Amory bequem und vorgefertigt fand, ohne Priester, ohne Sakramente und ohne Opfer.
    Da er nicht schlafen konnte, knipste er die Leselampe an, nahm Die Kreutzersonate aus dem Regal und durchsuchte sie aufmerksam nach den Erregern für Burnes Begeisterung. Burne zu sein schien plötzlich so viel näher an der Wirklichkeit, als schlau zu sein. Dennoch seufzte er… auch hier gab es möglicherweise einen Pferdefuß.
    In Gedanken ging er die letzten beiden Jahre durch, erinnerte sich an Burne, den nervösen Freshman, der immer in Eile war und im Schatten der Persönlichkeit seines Bruders stand. Dann fiel ihm ein Vorfall aus dem Sophomore-Jahr ein, bei dem Burne die treibende Kraft gewesen sein sollte.
    Eine größere Studentengruppe hatte mitbekommen, wie Studentenvorsitzender Hollister sich mit einem Taxifahrer herumstritt, der ihn von der Bahnstation hergefahren hatte. Im Verlauf dieses Wortwechsels ließ der Vorsitzende die Bemerkung fallen, »dann kann ich das Taxi ja gleich kaufen«. Er bezahlte und ging, doch als er am nächsten Morgen sein Arbeitszimmer betrat, fand er an der Stelle, wo sonst sein Schreibtisch stand, das Taxi mit einer Schrifttafel versehen, auf der zu lesen stand: »Eigentum des Vorsitzenden Hollister. Gekauft und bezahlt.«

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