Diesseits vom Paradies
abzugewinnen, und gab dann lachend auf.
»Ehrlich, Burne, ich hab noch nie so viel Hässlichkeit auf einem Haufen gesehen. Sie sehen aus wie die Insassen eines Altmännerheims.«
»Ach Amory, sieh dir Emersons Stirn an; sieh dir Tolstois Augen an.« Sein Ton war vorwurfsvoll.
Amory schüttelte den Kopf.
»Nein! Meinetwegen sehen sie interessant aus oder was auch immer – aber hässlich sind sie auf jeden Fall.«
Unbeeindruckt strich Burne liebevoll mit der Hand über die geräumigen Stirnen, bevor er die Bilder auf einen Stapel legte und wieder im Schreibtisch verstaute.
[193] Nächtliche Spaziergänge gehörten zu seinen Lieblingsbeschäftigungen, und eines Nachts überredete er Amory, ihn zu begleiten.
»Ich hasse die Dunkelheit«, wandte Amory ein, »früher nicht – außer wenn ich gerade besonders phantasievoll war– aber jetzt – ich bin wirklich ein richtiger Angsthase im Dunkeln.«
»Aber dazu besteht doch überhaupt kein Grund.«
»Schon möglich.«
»Wir gehen ostwärts«, schlug Burne vor, »und dann über die Straßen, die durch den Wald führen.«
»Hört sich nicht besonders verlockend an«, gestand Amory zögernd. »Aber gehen wir.«
Sie legten ein flottes Tempo vor und marschierten eine Stunde lang in heißer Debatte, bis die Lichter von Prince-ton hinter ihnen zu leuchtenden weißen Punkten geworden waren.
»Jeder, der nur ein bisschen Phantasie hat, muss sich fürchten«, sagte Burne ernst. »Und diese nächtlichen Spaziergänge waren etwas, wovor ich mich fürchtete. Ich will dir erzählen, warum ich jetzt überallhin gehen kann, ohne mich zu fürchten.«
»Erzähl«, drängte Amory wissbegierig. Langsam bewegten sie sich auf den Wald zu, und Burnes nervöse, leidenschaftliche Stimme entzündete sich an seinem Thema.
»Es ist etwa drei Monate her, da bin ich nachts häufig allein hierhergegangen und immer an der Kreuzung stehengeblieben, an der wir gerade vorbeigekommen sind. Da ragte der Wald drohend auf, genauso wie jetzt, dort heulten Hunde, dazu die Schatten, und kein menschlicher Laut. [194] Natürlich habe ich den Wald mit allen möglichen Gespenstern bevölkert – genau wie du, hab ich recht?«
»Ja«, gab Amory zu.
»Ich begann es zu analysieren – meine Phantasie bestand darauf, dass das Dunkel voller Gefahren stecke – also steckte ich stattdessen meine Phantasie ins Dunkel und ließ sie nach mir Ausschau halten – ließ sie den streunenden Hund oder den entsprungenen Sträfling oder den Geist spielen, und dann sah ich mich selbst die Straße entlangkommen. Damit war alles in Ordnung – alles kommt wieder in Ordnung, wenn man sich völlig in die Lage eines anderen versetzen kann. Ich wusste, wäre ich der Hund oder der Sträfling oder der Geist, ich wäre keine größere Bedrohung für Burne Holiday als er für mich. Dann fiel mir meine Uhr ein. Vielleicht sollte ich besser zurückgehen und sie zu Hause lassen und es dann mit dem Wald versuchen. Nein, ich entschied, dass ich lieber eine Uhr verlieren wollte, als wieder umzukehren – und dann ging ich hinein in den Wald – nicht nur auf der Straße, die hindurchführt, sondern mitten hinein, bis ich keine Angst mehr hatte; so lange, bis ich mich eines Nachts irgendwohin setzte und eindöste; da wusste ich, dass ich die Angst vor dem Dunkel überwunden hatte.«
»Mein Gott!« Amory atmete schwer. »Das hätte ich nicht geschafft. Ich wäre vielleicht halb durchgekommen, und mit dem ersten Auto, das vorbeifährt und die Dunkelheit noch dichter erscheinen lässt, wenn die Scheinwerfer wieder verschwunden sind, hätte ich kehrtgemacht.«
»Wir sind schon zur Hälfte durch«, sagte Burne plötzlich nach einem Moment des Schweigens, »gehen wir zurück.«
[195] Auf dem Rückweg begann er ein Gespräch über den Willen.
»Der Wille ist alles«, beteuerte er. »Er bestimmt die Scheidelinie zwischen Gut und Böse. Ich kenne niemanden, der ein verkorkstes Leben führte und nicht auch einen schwachen Willen gehabt hätte.«
»Und was ist mit den großen Verbrechern?«
»Die sind meistens unzurechnungsfähig. Wenn nicht, dann sind sie schwach. Einen starken und zurechnungsfähigen Verbrecher gibt es nicht.«
»Burne, ich kann dir absolut nicht zustimmen; wie steht es mit dem Übermenschen?«
»Ja?«
»Er ist böse, denke ich, dennoch ist er stark und zurechnungsfähig.«
»Ich bin noch keinem begegnet. Aber ich wette, dass er dumm oder unzurechnungsfähig ist.«
»Ich bin ihm schon oft begegnet, und er ist keins
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