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Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)

Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)

Titel: Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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begegnen. Mit Hartmut eben.

Chronik des Dorfes
    Der geplante reibungslose Übergang von der DJ - zur Gartenarbeit wollte nicht so richtig klappen. Kaum hatten wir uns im neuen Garten eingelebt, gewann plötzlich unsere Disko weltweit an Bedeutung. Das Interesse an der deutschen Kultur wuchs nicht zuletzt der Russendisko wegen. Es folgten Einladungen aus dem Ausland, auch Universitäten auf der ganzen Welt hießen uns als begehrenswertes deutsches Kulturexportgut willkommen.
    Zunächst aber flogen wir zur Buchmesse nach Mexiko, der ersten lateinamerikanischen Buchmesse mit Deutschland als Schwerpunkt, für die sich die Mexikaner aus der ganzen Vielfalt der deutschen Kultur die Russendisko gewünscht hatten. Tausende tanzten draußen an der frischen Luft, manche zogen sich vor lauter Begeisterung über die deutsche Kultur gar aus, leider hauptsächlich Männer.
    Danach ging es nach Amerika und zwar nicht in das europäisch getarnte, fernsehtaugliche Amerika an der Küste, wo sich die Menschen gerne freundlich und weltgewandt zeigen, ein verständliches Englisch sprechen und Obama wählen, sondern ins Herz dieses Landes, wo ganz andere Sitten herrschen. Mit dem Auto fuhren wir von Atlanta nach Nashville, Knoxville und Cookeville, überall dorthin, wo der alte Siedlergeist noch lebte, wo übergewichtige Menschen ohne Zähne, aber mit Gewehr sich gegen eine Krankenversicherung wehrten, obwohl die meisten eindeutig medizinische Betreuung dringend nötig gehabt hätten. Stattdessen wählten sie lieber die Republikaner.
    Die Einladung kam von mehreren Privatuniversitäten, an denen die Kinder dieser Menschen Germanistik studierten. Am Ende jedes Jahres luden diese amerikanische Germanisten jemanden aus Deutschland ein, der ihrer Meinung nach das moderne deutsche Kulturelement in sich trug. Wir hatten eine Russendisko in der Turnhalle in Cookeville veranstaltet, einem auf der Karte schwer auffindbaren Ort, der vom Highway aus wie eine Tankstellenausfahrt aussah. In Wirklichkeit versteckte sich hinter der Tankstelle eine schicke Privatuniversität. Es herrschte Alkoholverbot in dieser Gegend. Man brauchte, wenn ich es richtig verstanden hatte, eine Bescheinigung vom Arzt, um eine Flasche Bier zu kaufen. Anfangs hatte ich große Zweifel, ob eine Russendisko mit Cola als Begleitgetränk überhaupt funktionieren konnte. Es war meine erste Erfahrung dieser Art. Die Party erinnerte eher an einen Kindergeburtstag, aber die Studenten freuten sich wie verrückt, und überall rollten Cola-Flaschen auf dem Boden. Die Lehrer hatten wahrscheinlich noch zu Hause vor ihrem Diskobesuch ein paar Gläschen gekippt. Sie strahlten große Freude aus.
    Mit unseren Auftritten im Ausland verdienten wir Geld, um es in unseren nordbrandenburgischen Garten zu investieren. Wir wollten einen Wintergarten bauen und eine kleine Orangerie. Doch auch hier entwickelte sich unsere Tanzveranstaltung nach dem ersten Mal im »Haus des Gastes« zur Nummer eins unter den Dorfdiskos. Menschen aus den Dörfern in der Nachbarschaft, die gleichen Menschen, die kurz zuvor noch bei unserem Nachbar Mathias angerufen hatten, um ihn zu fragen, ob man Russisch können müsse, um an dieser Veranstaltung teilzunehmen, dieselben Menschen kamen nun zu mir in den Garten und sagten, sie wollten in ihrem Dorf auch eine Russendisko haben.
    Manche von ihnen brachten als Zeichen des Friedens ihre Ausweise von der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft mit, die sie noch aus der DDR -Zeit hatten. Jahrzehntelang hatten sie ihre Beiträge in die Freundschaftskasse gezahlt und nur Stempel dafür bekommen. Nun zeigten sie mir die gestempelten Seiten ihrer DSF -Ausweise und sagten: »Herr Kaminer, wir haben bezahlt! Wo ist nun die Freundschaft?« Ich kam mir vor wie ein Zirkusakrobat, der vom Trapez gefallen ist. Plötzlich wollte das Publikum sein Geld zurückhaben. Ich konnte die Freundschaft suchenden Menschen ja nicht einfach an die russische Botschaft verweisen. Irgendwie fühlte ich mich auch tatsächlich zuständig. So wurde die Russendisko zu einer tanzenden Fortsetzung der DSF . Und warum eigentlich nicht? Auf einmal hatten wir in drei nahegelegenen Dörfern Diskotermine.
    Den Brandenburgern macht es große Freude auszugehen. Sie ziehen sich sehr lustig an, wenn sie Ausgang haben. Zuerst schmunzelte ich darüber, doch ich begriff schnell, dass die ländliche Mode ganz anders als die großstädtische entsteht. In einer Großstadt passen sich die Menschen der Umgebung an.

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