Dihati Qo – Die, die sind
des Abschieds doppelt.
Denn ihre toten Verwandten – alleingelassen im Dorf – und der Schmerz ihres Verlusts, hatten sie dorthin gebracht, wo sie jetzt standen. Vor ein Portal. Ein Portal zurück in ihre Welt.
Doch für die beiden Freunde gab es keine Welt, zu der sie gehörten. Ihre Welt war leer. Es gab nichts, zu dem sie zurückkehren konnten: kein Heim, keine geliebten Menschen, kein warmes Herdfeuer. Niedergebrannt, verstümmelt, abgeschlachtet. In ihren Herzen fühlten sie keine Sehnsucht, keine Wärme, keine Liebe. Ihr Innerstes konnte nur eines füllen: Vergeltung! Dieser Durchgang war das Portal zu ihrer Rache!
Teil III: Den Feind erkennen
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Das Portal schimmerte hinter ihnen und stellte die Verwüstung des Raumes in ein unwirkliches Licht. Eine weitere Höhle auf ihrer langen Reise. Ehemals als Wohnraum eingerichtet mit Stühlen, Tisch und einer Schlafgelegenheit. Sogar ein Regal mit Büchern und Schriftrollen befand sich einst an der Höhlenwand. Jetzt drapierte es zusammen mit seinem Inhalt den Boden.
Die Überreste der Einrichtung begruben den verrenkten Körper der Seherin. Die beiden konnten nichts mehr für die Freundin der alten Dame tun. Sie hatte sich wacker geschlagen, aber dem Dicken war sie nicht gewachsen gewesen. Eric blickte zu seinem Freund. Wäre Norak ihm hier in der ›realen‹ Welt gewachsen gewesen? In Sorca hatten sie ihn bezwungen, doch die Welt der Magie hatte Norak beherrscht. Konnte er diese hier auch beherrschen?
Norak bückte sich und hob eine Schriftrolle auf. Ein geflochtenes Band verschnürte das Pergament. Ein Siegel aus schwarzem Wachs baumelte an ihm. Norak hielt es fest. Er kannte das Zeichen auf dem Siegel. Der Ohab hatte es ihm gezeigt. Mit seinem Daumen strich Norak über die drei Symbole im Wachs: ein Kreis und zwei gewundene Linien, welche ihn kreuzten. Es war das Zeichen des Bundes, den Kreis und den Fluss der Zeit symbolisierend. Die Bedeutung des Kreises der Zeit erschloss sich Norak nicht.
»Was ist das?«, wollte Eric wissen.
»Eine Schriftrolle des Bundes.«
»Öffne sie!«
Norak tat wie ihm geheißen.
»Was steht drin?«
»Es ist von Gennoh!«
»Also von Dir?« Eric schmunzelte. Die Erklärungen der schrulligen Dame über Gennohs Geist hatten Norak sichtbar aufgewühlt. Eine willkommene Gelegenheit ihn damit zu necken.
»Lass das. Bitte.« Norak warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. Über abstruse Seelenwanderungen wollte er momentan nicht nachdenken.
»Ist gut. Liest Du es trotzdem vor?«
Norak wendete sich wieder der Schriftrolle zu. »Es ist die Weissagung ’di Albahs.«
» Die Weissagung? Von welcher der Ohab im Dorf erzählte? Von der er angeblich nicht alle Details kannte?«
»Ja, obwohl wir ihm das damals schon nicht abgenommen haben, oder?«
»Spann mich nicht länger auf die Folter. Was steht drin?«
Norak räusperte sich und änderte seine Tonlage, um mit einer tiefen, feierlichen Stimme vorzutragen. »So höre die Weissagung ’di Albahs:
Die, die sind, werden die Quelle finden. Die, die sein werden, werden die Quelle zurückholen und Die, die waren, werden die Quelle verwahren an dem ihr angestammten Platz.
Mit der Quelle wird auch das Böse verwahrt, das die Quelle missbraucht. Das Böse erlangt Macht durch die Quelle, aber ohne sie kann es auch nicht besiegt werden.
Daher wird das Böse gefangen genommen. Der Köder ist die Quelle. Der Kerker das Mächtigste, das es gibt; dem selbst das Böse nicht entkommen kann: Der Kerker ist die Zeit!«
Eric schluckte. Er hörte die Zeilen und nahm hinzu, was sie herausgefunden hatten. »Nun versteh ich, warum der Ohab nicht damit herausrückte. Wir sind erledigt. Und unser Auftrag auch!«
»Wie meinst Du das?«
»Wir sind doch ›Die, die sind‹, oder?«
»Mmh, ja, nachdem was der Ohab gesagt hat.«
»Was ist unsere Aufgabe?«
»Die Quelle zu finden.«
»Richtig! Aber gefunden haben wir sie bereits. Beim Bauern Johann. Wir wissen sogar, wo sie sich momentan befindet. Zurückholen werden sie nicht wir, sondern die, die nach uns kommen.«
»Die, die sein werden.«
»Genau! Kann es sein, dass wir auf dem Weg zum Fürsten in unseren Tod laufen?«
»Tun wir das nicht schon die ganze Zeit, Eric?«
Der Punkt ging an seinen Freund. Eric war sich nie so unschlüssig wie in diesem Moment.
»Eric, wir haben doch von Anfang an nicht an dieses Dihati-Zeug geglaubt. In Ordnung, einiges davon mag wahr sein. Doch nur weil es Gennoh war, der vor langer Zeit diese Aussage machte,
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