Diktator
du miese Verräterin, sonst schneide ich ihm die Kehle durch!«
Die SS-Leute blieben unschlüssig stehen.
Fiveash kam näher, Schritt für Schritt. Sie hielt die Pistole in beiden ausgestreckten Händen. »Ich wusste, dass mit euch irgendwas nicht stimmte. Wie die Woolers sich begrüßt haben – das war nicht nur eine Mutter, die ihren gefangenen Sohn in die Arme schließt – ich wusste, dass ihr etwas im Schilde geführt habt! Aber ich gebe zu, dich habe ich nicht gesehen, Sophie …«
Mit einem Grunzen stieß Doris Ben zu Fiveash. Er fiel gegen sie, und sie verhedderten sich ineinander. Und Doris lief zu der großen Rechenmaschine, der Z3. Fiveash brüllte die SS-Leute an.
Auf einmal wusste Gary, was Doris tun würde. Er ging hinter einem Balken in Deckung.
Die Explosion war ein Lichtimpuls, die Erschütterung ein Schlag in den Unterleib. Über der Z3 flog der Deckenputz nach oben, und Gary versuchte, sein Gesicht zu schützen.
XXVII
Er merkte, dass er hin und her schaukelte, und die Brise in seinem Gesicht war frisch, kalt und salzig. Er öffnete die Augen. Uniformen überall um ihn herum, in seltsamen Winkeln. Ein grauer Himmel über ihm, wolkenverhangen.
Er befand sich in einem Boot. Schwankend setzte er sich auf.
»Gary?«
Seine Mutter saß neben ihm. Er hatte mit dem Kopf auf ihrem Schoß gelegen. Sie strich ihm über die Stirn, aber er zuckte zurück; seine Haut war empfindlich. Das Boot war klein und voller Marineinfanteristen. Ein älterer Mann, ein Offizier, saß ihm gegenüber – Uniformmütze, Trenchcoat – und beobachtete ihn unablässig.
Seine Mutter fragte: »Wie fühlst du dich?«
Er griff nach ihrer Hand. »Wie ein einziger großer Bluterguss. Und mein Schädel dröhnt wie die Freiheitsglocke.« Er berührte seine Ohren; er nahm die Stimmen und Geräusche nur gedämpft wahr.
»Hier, trink einen Schluck Wasser.« Sie reichte ihm eine Feldflasche.
Er schaute an sich hinab, auf Gipsstaub, Blut, Rippen. »Mein Anzug ist hin.«
»Dafür werden Sie Moss Bros 5 Rede und Antwort stehen müssen«, sagte der Offizier in sehr kultiviertem Englisch.
»Wem?«
»Nicht so wichtig. Schlechter Scherz.« Er streckte die Hand aus. »Ich bin Tom Mackie. Captain, Royal Navy. Bis auf Weiteres abgestellt zum militärischen Nachrichtendienst. Ich kenne Ihre Mutter, und ich habe alles über Sie gehört, Gary, aber wir begegnen uns zum ersten Mal. Abgesehen von dem Moment, als ich Sie mir über die Schulter geworfen habe, um Sie aus Richborough rauszuholen.«
»Ist mir sehr peinlich«, sagte Gary. »Wo bin ich?«
»Im englischen Kanal, alter Knabe. Keine Sorge, Sie sind in Sicherheit.«
Seine Mutter sagte: »Der Arzt, der dich am Strand untersucht hat, meinte, du hättest eine Gehirnerschütterung und einen Schock. Erstaunlich, dass du überhaupt wieder aus diesem Dachraum rausgefunden hast.«
»Ich erinnere mich nicht«, gestand Gary.
»Was, an gar nichts?«, fragte Mackie trocken. »Der Angriff vom Meer her auf Richborough – zeitlich perfekt abgestimmt, nebenbei bemerkt –, die Schießerei mit diesen SS- goons , die Flucht zum Strand?«
»Tut mir leid.«
»Na ja, schon gut. Halt ein ganz normaler Heiligabend.«
Gary fröstelte. Ein Marineinfanterist warf ihm
eine grüne Decke zu. »Da, Kumpel.« Er wickelte sich dankbar darin ein und ließ sich von seiner Mutter in die Arme nehmen; vermutlich hatte sie das verdient. Der Tag dunkelte bereits, sah er, das Licht sickerte aus einem bleigrauen Himmel.
Mackie beugte sich vor. »Schon fit genug für eine kleine Befragung?«
»Ich werd’s versuchen.«
»Ben Kamen?«
»Wir haben ihn gefunden. Er hat geschlafen. War mit einer Maschine verkabelt, einer, äh, ›elektromechanischen Rechenmaschine‹, wie er sie genannt hat. Einer Z3, ja.«
»In Ordnung. Gut. Ihr habt es nicht geschafft, Ben rauszuholen?«
Gary schüttelte den Kopf. »Als ich ihn zuletzt gesehen habe, kam gerade diese SS-Offizierin hereingestürmt – Fiveash. Ich habe aus dem Deckenraum in den Kellerraum hinuntergeschaut. Doris hat sie herausgefordert. Sie könnten mittlerweile alle tot sein.«
»Bis zum Beweis des Gegenteils müssen wir davon ausgehen, dass sie noch leben.«
»Ich glaube, Doris hat die Z3 zerstört.«
»Braves Mädchen«, sagte Mackie und nickte. »Dafür kriegt sie eine Medaille, wenn auch nur posthum. Aber es kann sein, dass es nicht viel nützt«, wandte er sich an Mary. »Nicht, wenn sie immer noch Kamen haben.«
»Eins verstehe ich nicht«,
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