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Diktator

Diktator

Titel: Diktator Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Baxter
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Fred, was soll ich denn machen? Sie ist siebzehn, sie kann tun und lassen, was sie will.«
    »Ganz herzlichen Dank«, sagte Viv in schleppendem Ton. Sie befestigte den Hut auf ihrem Kopf; es war ein kleiner Trilby. »Freut mich, dass jemand in diesem Haus mich wie eine Erwachsene behandelt und nicht wie eine Verbrecherin .«
    »Pass auf dich auf, Liebes.«
    »Ja, ja.« Viv ging an Ernst vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
    Als sie die Küchentür hinter sich zuschlug, zuckte Ernst zusammen. Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er sich des Eindrucks nicht erwehren konnte, dass die Freundlichkeit, mit der er dem Mädchen seit seiner Einquartierung in diesem Haus begegnet war, irgendwie die falsche Wirkung erzielt hatte, dass Viv letztlich genau das geworden war, was ihr Vater befürchtet hatte. Aber was hätte er sonst tun können?
    Heinz füllte Freds Glas auf.
    Ernst ging zum Waschbecken hinüber und blieb neben Irma vor dem offenen Fenster stehen. Der englische
Sommer nahte, und die Tage waren lang; es war nach sieben Uhr abends, aber die Sonne stand noch über dem Horizont, der Himmel war von einem tiefen, leuchtenden Blau, die Welt grün und voller Vogelgezwitscher. Er staunte oftmals darüber, wie unverwüstlich die Natur war. Es dauerte nur Tage, bis Unkraut ein Trümmergrundstück besiedelte, viel schneller, als die Menschen den Schutt wegräumen und ein Haus wieder aufbauen konnten. Und manche Menschen erholten sich gar nicht mehr. Zum Beispiel Heinz. Er war von seinem Winter an der Ostfront körperlich und seelisch verwundet zurückgekehrt – um Jahre gealtert.
    Irma reichte Ernst ein Glas kaltes Wasser. Als sie einen Schritt machte, klapperten ihre Holzschuhe über den Steinboden. Fred hatte sie aus Holz und einem Stück altem Leder gefertigt; Schuhe gehörten zu jenen Dingen, die zu ersetzen der Zivilbevölkerung immer schwerer fiel. »Man kann’s Viv nicht verdenken. Armes Mädchen! Nicht gerade eine schöne Zeit für junge Leute, was? Kein Wunder, dass sie so auf ein bisschen Glamour aus ist. Man kann’s ihr nicht verdenken.«
    Er trank sein Wasser. »Irgendwelche Neuigkeiten von den Jungs?«
    Sie schüttelte den Kopf. Es war einen Monat her, dass sie einen Brief von Alfie bekommen hatten, der jetzt sechzehn war. Er hatte auf einem zerbombten Flugplatz in Kent gearbeitet. Doch nun gab es Gerüchte, dass jedes Mitglied der Hitlerjugend in den Volkssturm oder sogar in die britischen Einheiten der
Wehrmacht übernommen und zum Kampf gegen die erwartete Gegeninvasion ausgebildet werden sollte. Was Jack betraf, so kam nun – drei Jahre, nachdem er in Kriegsgefangenschaft geraten war – schon seit vielen Monaten kein Wort mehr von ihm, nicht einmal über das Rote Kreuz.
    »Mit Fred wird’s jedes Mal schlimmer, wenn die Post gekommen ist. In gewissem Sinn macht er sich mehr Sorgen um Alfie als um Viv oder sogar um Jack. Alfie ist so jung, wissen Sie. Er kann sich wahrscheinlich kaum noch an die Zeit vor der Ankunft der Deutschen erinnern. Es könnte schwer für ihn sein, alles abzuschütteln, wenn die Amerikaner kommen.« Sie schaute zu den beiden am Tisch hinüber. »Sie fangen jeden Tag früher mit dem Wodka an.«
    Ernst rang sich ein Lächeln ab. »Heinz sagt, er habe die Finger seiner rechten Hand bei Stalingrad verloren, sei aber mit einer Flasche Wodka in der linken zurückgekehrt.«
    »Ich hoffe, Sie haben heute was Gutes zu essen bekommen, Herr Obergefreiter.« Sie rührte in dem wässrigen Eintopf. »Leider schon wieder Kartoffeln und Rüben. Nicht mal Walfleisch heute Abend! Die Feldgendarmerie hat unsere Zuteilung erneut gekürzt.«
    »Heinz hat’s mir schon erzählt.«
    »Fred ist Kriegsveteran. Die können doch nicht von ihm erwarten, dass er die Waffe gegen seine eigenen Landsleute erhebt. Man sollte meinen, sie wären rücksichtsvoll genug, ihn gar nicht erst zu fragen. Ich weiß, er bringt sich in Schwierigkeiten. Schon wie er sie immer
beschimpft! Na ja, vielleicht sind die Amerikaner hier, bevor sich die Sache zuspitzt.«
    »Ich bin sicher, wir werden damit fertig«, sagte Ernst unbestimmt, in der Hoffnung, sie zu beruhigen.
    Sie lächelte und strich sich ein paar Haare aus den Augen. Auch sie hatte abgenommen; ihre Schläfenknochen standen hervor, ihre Haare wurden noch dünner. »Sie sind immer so nett, Herr Obergefreiter. Ist schon komisch – in der Zeit nach der Invasion hätte ich nie gedacht, dass ich mal so empfinden würde –, aber ich vermisse die alten Zeiten

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