Diktator
Jahren geworden waren, hatten andere ähnliche Zweifel in Bezug auf Trojans umfangreiches Projekt und die Höhe der dafür aufgewendeten Mittel zum Ausdruck gebracht. Tatsächlich war es lange her, dass Himmler ihn irgendwie unterstützt, geschweige denn Richborough besucht hatte. Trojan war sogar einmal von der Gestapo zum Verhör geholt worden. Die Erfahrung hatte ihn erschüttert und verunsichert. Aber Julia Fiveash war stets zur Stelle, um ihm das Rückgrat zu stärken.
»Genug«, sagte Trojan. »Sorgen wir dafür, dass er sich wieder an die Arbeit macht.« Er legte seinen Schalter um. Ben spürte, wie die Opiate in sein Blut strömten. Die Brüder und Fiveash setzten ihren Rundgang durch die Einrichtung fort. »Weißt du, Ernst, du solltest hierher nach Richborough kommen und mit mir zusammenarbeiten«, sagte Trojan. »Es gibt hier Wehrmacht-Wärter. Ich könnte bestimmt deine Versetzung erreichen.«
»Ich habe andere Aufgaben.«
»Dein Problem ist, dass du nie über diese elende
kleine Französin hinweggekommen bist, stimmt’s? Die Sache hat dir den Verstand vernebelt. Du warst schon immer ein Dummkopf …«
Die Welt wirbelte davon, als fiele er in einen Brunnen, und Ben, in seinem eigenen Inneren gefangen, sank in bruchstückhafte Träume.
III
18. Juni
Marys Zug nach York hatte Verspätung.
Als sie zu dem kleinen Teeladen auf der Low Petergate kam, warteten sie schon auf sie. Sie saßen an einem Fenstertisch, tranken Tee und aßen Plätzchen: Tom Mackie, trotz seiner Navy-Uniform ein wenig zerknittert und professoral wie immer, und Gary in einer recht knapp sitzenden Uniform der britischen Army. Beide Männer standen auf, als die schwitzende, nervöse, müde Mary sich zu ihrem Tisch durchzwängte. »Mom …« Gary umarmte sie. Er roch nach Zigarettenrauch, Erde und einer Spur Kordit, der Geruch eines Soldaten. Aber die Arme, die sie hielten, waren stark. Es schmerzte sie, dass sie nur ein paar Minuten Zeit mit ihm haben würde.
Mackie zog einen Stuhl für sie heran. »Schön, Sie zu sehen, Mary. Tee, nicht wahr, und ein oder zwei Scones? Leider müssen Sie wohl ein bisschen warten; diese ganzen GIs halten das Mädchen ordentlich auf Trab.« Er drehte sich um und hob den Arm, um die Aufmerksamkeit der Bedienung auf sich zu lenken.
»Danke. Tut mir leid, dass ich zu spät komme.« Sie
nahm Platz und stellte ihre Handtasche und den Beutel mit der Gasmaske neben sich auf den Fußboden.
Der Laden war gerammelt voll. Die Gäste, lauter Militärangehörige – größtenteils Amerikaner, wie es schien –, unterhielten sich laut und rauchten. Und es lief Musik, eine sentimentale Glenn-Miller-Ballade. Wahrscheinlich war es der Promi; man hörte ihn überall wegen der Musik, die – da waren sich alle einig – besser war als bei der BBC. Mary saß direkt in dem großen Schaufenster; es war erstaunlich, dass ein solches Fenster die Bombenangriffe überstanden hatte. Sie blickte die Straße entlang, auf der es von Militärfahrzeugen und schwarzen Regierungslimousinen wimmelte, und konnte gerade so eben die eckigen Ruinen des Minsters erkennen.
»Du siehst ein bisschen verschwitzt und beunruhigt aus«, sagte Gary.
»Die Züge sind momentan eine echte Plage. Voller Militärangehöriger auf dem Weg von A nach B.«
»Aber man bekommt einen Eindruck von der Mobilisierung, nicht wahr?«, sagte Mackie. »Jede Menge Figuren, die kurz vor Spielbeginn auf dem Schachbrett herumgeschoben werden.«
Das alles war natürlich streng geheim, aber man musste schon blind und taub sein, um nicht zu merken, was vorging. Seit Monaten strömten Truppen ins Land. Im Norden und in Schottland hatte man Bauernhöfe und Dörfer evakuiert und riesige Landstriche in Truppenübungsplätze verwandelt. Es hieß, dass die US Eighth Air Force, die achte US-Luftflotte, East
Anglia weitgehend übernommen hatte. Nachts hörte man überall auf einem breiten Streifen nördlich der Winston-Linie das Dröhnen von Panzern und mobilen Geschützen, von Studebakers und Jeeps, die im Schutz der Dunkelheit zu ihren Bereitstellungsplätzen rollten.
Und hier saß nun ihr eigener Sohn, der drauf und dran war, sich in den Hexenkessel zu stürzen. Er wirkte viel weniger jungenhaft als bei ihrer letzten Begegnung. Jetzt hatte er den schweren Körper eines Mannes, sein Hals wurde dicker, und sogar sein Haar lichtete sich ein wenig, wie bei seinem Vater. Und er war voller nervöser Energie. Immer wieder schaute er auf die Wanduhr.
»Du hast
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