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Diktator

Diktator

Titel: Diktator Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Baxter
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In der Stadt gab es so gut wie keine Zäune, Geländer und Laternenpfähle mehr; das Metall hatte man der Rüstungsindustrie übergeben. Nach fast vier Jahren ohne einen Pinselstrich frischer Farbe sahen die Häuser, Läden und Büros schäbig aus, im langsamen Verfall begriffen, und ihre verdunkelten Fenster waren wie geschlossene Augen. Mary glaubte, eine ähnliche rundschultrige Schäbigkeit bei den Menschen in ihren geflickten Kleidern und Schuhen zu sehen, die jetzt das vierte Jahr eines Krieges ertrugen, der nicht nur zermürbend, sondern langweilig geworden war.
    Die spektakulärste Bombenruine war das Minster selbst. Im Sommer 1942 hatte die deutsche Luftwaffe binnen einer Woche eine Reihe besonders bösartiger Angriffe auf das imposante alte Gebäude geflogen, offenbar in der Absicht, einen symbolischen Schlag gegen Halifax’ Machtzentrum zu führen. Mary und Mackie traten vorsichtig durch den Haupteingang auf der Nordseite – Fahnen des heiligen Georg, Großbritanniens, der Vereinigten Staaten, Polens und Frankreichs flatterten über ihren Köpfen — in die Schatten der Ruine. Der zentrale Turm war weitgehend zerstört, das restliche Dach eingedrückt, die Steinböden waren zertrümmert und zersplittert. Aber das Minster war nach wie vor eine funktionierende Kirche. Draußen im Freien, unter dem großen Westfenster, das die Bombardierungen
durch Glück oder ein Wunder überstanden hatte, war ein kleiner Altar errichtet worden. Den vom Schutt befreiten und nach Blindgängern abgesuchten Innenraum hatte man jedoch größtenteils umgegraben und in Parzellen aufgeteilt. Heute arbeiteten Trupps von Landarbeiterinnen zwischen den Mauerresten.
    Mary und Mackie setzten sich auf eine umgestürzte Säule im Schatten des zerstörten nördlichen Querschiffs, die Füße im hohen Gras, und sahen den Mädchen bei der Arbeit zu. Sie waren recht gut gelaunt, und ihre jungen Stimmen hallten von den Steinmauern wider.
    »Sieht so aus, als stünden sie gegen das Weidenröschen auf verlorenem Posten«, sagte Mary.
    Mackie zuckte die Achseln. »Hat eher symbolische Bedeutung als praktischen Nutzwert, soweit ich weiß. Eine Maßnahme zur Stärkung der Moral. Hier drin ist es eigentlich zu schattig, um etwas anzubauen, was der Mühe wert ist. Natürlich hat es hier nur so von Archäologen gewimmelt, seit Hitler ihnen den Gefallen getan hat, das Bauwerk in die Luft zu sprengen.«
    »Kein Wunder. Die Wurzeln reichen bis zu einem römischen Militärhauptquartier zurück, dem damaligen Machtzentrum im gesamten Norden Englands.«
    »Und jetzt ist York auf einmal das Zentrum eines Weltreichs. Erstaunlich, wie alles wiederkehrt. Ich frage mich, was die Archäologen der Zukunft aus unserer Zeit vorfinden werden. Eine Ascheschicht, nehme ich an. Trümmer und Knochen.«
    »Geoffrey Cotesford hat die Stadt seinen Lebenserinnerungen
zufolge viele Male besucht. Sein erstes Kloster befand sich unmittelbar außerhalb der Mauern.«
    »Ah, unser Freund Bruder Geoffrey! Das dachte ich mir. Also, kommen wir zur Sache, Mary.« Er holte seine Pfeife heraus und machte sich daran, sie auf seine übliche, ziemlich theatralische Weise zu stopfen, Tabakfaden für Tabakfaden. Mary fiel auf, dass sie Mackie kaum jemals ohne die Pfeife sah. Vielleicht brauchte er dieses Requisit zur Beruhigung; vielleicht war er weniger gelassen, als seine weltmännische britische Oberfläche glauben ließ. »Erzählen Sie mir zuerst, wie Sie mit Ihrer Gegengeschichte vorankommen. Was ist Ihr Angelpunkt des Schicksals?«
    »Dünkirchen«, sagte sie sofort.
    Dies war eine Übung, die sie sich beide selbst auferlegt hatten. Im Versuch, sich in die Denkweise der an der Geschichte herumpfuschenden Nazis hineinzuversetzen, hatte Mackie vorgeschlagen, eigene »Gegengeschichten« zu entwerfen. Welche kleinen Änderungen an der Geschichte würde man in Erwägung ziehen, wenn man einen Webstuhl besäße? Dabei seien nicht so sehr die Ergebnisse von Interesse, behauptete er, sondern die Denkgewohnheiten und die ein wenig von konventioneller historischer Forschung abweichenden Formen der Recherche, die er verstehen wolle.
    Mackie nickte weise. »Dünkirchen. Ich hätte mir denken können, dass Sie Ihrem Sohn das Erlebnis dieser schrecklichen Niederlage und ihrer Folgen gern ersparen würden.«

    »Nehmen wir an, es wäre der Sohn von jemand anderem gewesen, nicht meiner«, sagte sie grimmig.
    »Na schön. Wie hätte dieses Unglück abgewendet werden können?«
    »Wenn Hitler

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