Diktator
reparieren sollte, um diesen verdammten Krieg zu beenden, dann wüsste ich, wohin ich gehen würde.«
»Wohin?«
»Nach Versailles. Der lausige Friedensvertrag nach dem Weltkrieg 14/18. Ihr könnt mit jedem x-beliebigen Deutschen reden – und ich hatte im Stalag reichlich Gelegenheit dazu –, und er wird euch sagen, dass damit alles angefangen hat. Ein gerechter Friede, und es hätte keinen Hitler gegeben.«
»Ich werd’s mir durch den Kopf gehen lassen«, murmelte Mackie.
»Tun Sie das.« Gary stand auf und nahm seinen Gasmaskenbeutel von der Stuhllehne. »Guten Tag, Captain. Mom.«
»Alles Gute, mein Sohn.«
Er ging davon. Draußen vor der Tür setzte er sich die Mütze auf, straffte sich und marschierte davon. Sie sah ihm nach, bis er außer Sicht war.
Mackie wartete geduldig. »Er ist ein guter junger Mann. Ich bin sicher, er wird die Mission erfüllen, die wir für ihn haben.«
»Ich möchte nur, dass er das alles hinter sich bringt, ohne noch mal zusammengeschossen zu werden.«
Er tippte mit einem sauberen Fingernagel auf seine Untertasse. »Warten wir auf Ihren Tee. Dann sollten wir vielleicht von hier verschwinden. Ich glaube, mir wäre wohler, wenn wir uns draußen unterhielten – auf Schusters Rappen, sozusagen.«
Mary lehnte sich zurück. »Kommen Sie schon, Tom. Sie glauben doch nicht allen Ernstes, dass hier ein deutscher Spion herumhockt. Wir sind von lauter GIs umgeben!«
Mackie grunzte. »Glauben Sie mir, es gibt Kreise in der britischen Regierung, die mehr vor unseren Verbündeten als vor unseren Feinden auf der Hut sind. Ist nicht böse gemeint. Wo bleibt die Kleine nur?«
IV
So gingen sie zu Fuß durchs Zentrum der Stadt, Richtung Minster.
Es war ein heißer Junitag, kurz nach drei Uhr. In den Geschäften im Stadtzentrum herrschte reger Betrieb, selbst an einem Freitagnachmittag wimmelte es von Menschen, darunter viele Militärangehörige und Staatsdiener in Nadelstreifen. Ein britisches Restaurant, vorgeblich ein für die Ausgebombten bestimmtes Selbstbedienungscafé, machte ordentlich Umsatz. Mackie und Mary, beide Büchernarren, hielten bei einer Buchhandlung inne, in deren Schaufenster sich Penguin-Ausgaben der Romane von Graham Greene und Agatha Christie sowie rein kommerzielle Krimis und Liebesromane stapelten.
Es waren jedoch die GIs, die die Aufmerksamkeit auf sich zogen. Man sah sie überall, sie hingen an Straßenecken herum wie rebellische Jugendliche, kauten unaufhörlich Kaugummi und rauchten ostentativ ihre Camels und Lucky Strikes, und das in einer Zeit, in der die englischen Raucher sich meist mit übel riechenden türkischen Marken begnügen mussten. Sie hatten etwas Lockeres und Lässiges, fast schon an Schlampigkeit Grenzendes an sich, das einem bewusst machte,
wie etepetete die meisten britischen Militärangehörigen im Vergleich dazu aussahen. In Englands Groß-und Kleinstädten würde das Jahr 1943 immer als der GI-Sommer in Erinnerung bleiben, dachte Mary.
In York herrschte regeres Leben als in den meisten Städten im freien England, weil es der Notsitz der Regierung war. Aber wie die anderen Städte auch war es von den Spuren des langen Krieges gezeichnet: den Flakstellungen, den Bunkern, den Sandsäcken um öffentliche Gebäude. Die großen Luftangriffe hatten nach den hektischen Monaten der Invasion im Jahr 1940 aufgehört, aber als Regierungssitz hatte York mehr als seinen Teil jener sporadischen Angriffe der deutschen Luftwaffe abbekommen, die bei den Briten tip-and-run raids hießen, Blitzangriffe mit sofortigem Rückzug. Darum gab es Löcher in der Straßenbebauung, gekennzeichnet von Mauerresten und geborstenen Rohren. Die Trümmer hatte man weggeräumt und in den Parks zu gewaltigen Haufen gestapelt. Einige dieser Trümmergrundstücke waren vier Jahre alt und von Grünzeug überwuchert; das Unkraut liebte den Ziegelstaub und die Asche. Mary nahm bedrückt an, dass die Bombardierungen mit dem W-Tag in Großbritannien ebenso wieder aufgenommen werden würden wie im Herzen Deutschlands und dass York und andere Städte neben den alten bald auch frische Narben aufweisen würden.
Einige der vom Krieg ausgelösten Veränderungen wirkten auf positive Weise mittelalterlich. In jedem Park, auf jedem Sportplatz und jedem Blumenbeet
wurden nun Feldfrüchte angebaut oder Schweine aufgezogen: Es musste fünfhundert Jahre her sein, sinnierte Mary, dass der Bauernhof derart in die Stadt vorgedrungen war. Und über allem lag eine Aura der Vernachlässigung.
Weitere Kostenlose Bücher