Diktator
kann, bevor der Krankenwagen kommt.«
Er wandte sich wieder Irma zu, ohne darauf zu achten, ob Fred gehorchte. Doch dann hörte er, wie der Stuhl zurückgeschoben wurde und Fred mit seinen schweren, ungleichmäßigen Schritten zur Tür ging.
Viv weinte jetzt offen. Sie wirkte viel jünger als ihre fünfzehn Jahre, schien aber bis auf die Atemnot nicht verletzt zu sein. Alfie legte ihr den Arm um die Schultern.
Ernst fragte Irma: »Was ist los, Frau Miller? Wovor haben Sie Angst?«
Irma wurde von einer weiteren Wehe geschüttelt und schnappte nach Luft. Aber sie beugte sich näher zu Ernst, damit die Kinder sie nicht hören konnten. »Vor meinem Mann, Obergefreiter. Ich habe Angst davor, was er tun könnte.«
»Wegen des Babys?«
»Wir haben so gut wie nie darüber gesprochen. Ich weiß nicht, was er tun wird – aber ich fürchte mich davor.«
Ernst glaubte allmählich zu verstehen. »Das Kind ist nicht von ihm.«
»Ich war ihm nie untreu.«
»Ihre Beziehungen sind Ihre Angelegenheit.«
»Aber genau darum geht’s ja. Es war überhaupt keine Beziehung. Nichts dergleichen. Es ist während der Invasion passiert.«
Und dann begriff er. »Oh. Es ist, ähm, ohne Ihre Einwilligung geschehen.«
Sie senkte beschämt den Kopf. »Ich hab’s niemandem erzählt. Nicht mal Fred. Aber tief drinnen weiß er’s. Ich dachte, wenn ich mich gegen sie wehre, gegen die Soldaten, dann nehmen sie Viv! Wir hatten uns versteckt, wissen Sie…«
»Von welcher Einheit waren sie? Haben Sie das erfahren, wissen Sie’s noch? Wehrmacht oder SS? Wenn Sie mir genau sagen können, wann das war, könnte ich sie womöglich identifizieren. Die Wehrmacht ist sehr streng in diesen Dingen, Frau Miller.«
»Nicht die Deutschen. Es war, bevor die Deutschen überhaupt hierhergekommen sind, bevor ich auch nur einen einzigen elenden Deutschen gesehen habe. Es waren Briten . Britische Soldaten auf dem Rückzug. Sie sind zum Haus gekommen und haben sich einfach genommen, was sie wollten. Essen, Getränke … Fred weiß es im Innern, da bin ich sicher. Aber ich weiß nicht, was er tun wird, Herr Obergefreiter, wirklich nicht. Trotzdem fürchte ich mich.« Ihre Hand schloss sich wieder um seinen Arm. »Bleiben Sie. Bitte bleiben Sie hier!«
V
Wegen der diversen Veranstaltungen zum königlichen Geburtstag war es in Hastings schon nach neun, als George nach Hause kam.
Aus dem Wohnzimmer drangen ein perlweißer Lichtschein, das Gemurmel deutscher Stimmen und das dumpfe, rhythmische Dröhnen martialischer Musik. Er zog seine Stiefel aus, legte den Helm auf den kleinen Tisch neben der Tür, hängte seine Jacke auf und ging ins Wohnzimmer. Julia Fiveash saß auf dem Sofa, die Füße auf einem Stapel von Georges Büchern. Sie trug ihre schwarze Uniformjacke – mit offenen Knöpfen –, aber ihre langen Beine waren nackt; im kalten Lichtschein des Fernsehers sahen sie aus wie aus Marmor gehauen. Sie hielt ein Glas Whiskey in der einen und einen Glimmstängel in der anderen Hand. Auf der Armlehne des Sofas stand ein überquellender Aschenbecher.
»Du hast ja früh angefangen«, sagte er.
Sie zuckte die Achseln. »Langer Tag.« Ihr blondes Haar war offen und fiel ihr um die Schultern, als sie sich umdrehte, um ihn anzusehen.
Er warf einen Blick auf den Fernseher und sah Aufnahmen von marschierenden deutschen Soldaten und primitive Landkarten, über die sich fette schwarze
Pfeile erstreckten. »Nicht Walt Disney, nehme ich an.«
Sie zeigte hin. »Das ist Moskau. Du kannst doch lesen, oder? Dies ist eine Wochenschau über unseren glorreichen Vormarsch im Osten.«
George fand das Fernsehen faszinierend, ganz gleich, was es zeigte; vor dem Krieg hatte er solche Geräte nur in Londoner Geschäften gesehen. Wahrscheinlich war es eines der erfolgreicheren Propagandamanöver der Deutschen, dachte er, einen Fernsehsender in Albion einzurichten. Das machte das lausige Kinoprogramm wieder wett; in den Filmtheatern bekam man jetzt immer nur eine Handvoll Filme aus der Vorkriegszeit zu sehen, die vom Propagandaministerium als »ungefährlich« eingestuft worden waren und nun wieder und wieder gezeigt wurden, sowie untertitelte deutsche Spielfilme voller stämmiger Bauern und marschierender Jugendlicher. Natürlich halfen die amerikanischen Zeichentrickfilme im Fernsehen. George hatte gehört, dass Hitler Donald Duck mochte.
»Wie dem auch sei«, sagte sie, »wo warst du?«
»Arbeiten«, sagte er kurz angebunden. »Wir hatten heute nicht frei. In einer
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