Diktator
Stammbaum. Und ihm fiel ein Akronym auf, das auf einige der Akten und Papiere gestempelt war: RuSHA.
Als Nächstes wurde er fotografiert, das Gesicht von vorn und von der Seite wie auf Verbrecherfotos, der Körper in voller Länge von vorn, von hinten und von beiden Seiten. Mit Hilfe von Farbtabellen ermittelten die Wissenschaftler die genaue Tönung seiner Haut und seiner Augen. Dann wurden seine Maße genommen, Größe, Brustumfang und Gewicht, die Länge seiner Gliedmaßen, Finger und Zehen – ja sogar, wie zu erwarten, die Länge seines Schwanzes. Mit großer Sorgfalt legten sie Greifzirkel um seinen Kopf. Sie maßen die Höhe und Breite seiner Stirn, die Länge, Breite und den Umfang seines Schädels, die Länge seiner Nase, die Breite seines Mundes, den Abstand zwischen seinen Ohren. All dies wurde schriftlich festgehalten.
Dann berieten sich die Wissenschaftler, wobei sie Schaubilder und eine Akte mit Fotos hinzuzogen, eine Art Kompendium von Menschentypen – aufrecht, mit krummem Rücken, großen und kleinen Ohren, hell-und dunkelhäutig. Es war reine Routine, effizient, ein bisschen wie die medizinische Untersuchung bei der Musterung, wenn auch mit einer Ernsthaftigkeit durchgeführt, die unheildrohend und ein bisschen komisch zugleich war.
Als sie fertig waren, lächelte ihn einer der Männer sogar an. »Glückwunsch, Corporal Wooler. Jetzt gehen Sie bitte zu Tisch Nummer eins auf der Bühne. Dort werden Sie endgültig registriert.«
Immer noch splitterfasernackt, musste er auf die Bühne steigen. Dort standen fünf kleine Tische nebeneinander, durchnummeriert von eins bis fünf, und an jedem saßen zwei weitere Wissenschaftlertypen. An Tisch Nummer eins musste Gary sich erneut identifizieren. Die Wissenschaftler verpassten ihm eine weitere beiläufige Untersuchung, bevor sie nickten, lächelten und lauter Häkchen in ein Formular malten.
»Und?«, sagte Gary. »Gratulieren Sie mir auch?«
»Wir sollten Ihren Eltern oder Ihren Großeltern gratulieren«, sagte einer von ihnen, ein älterer Mann mit unterdrücktem Akzent. »Ihr Schädelindex ist siebenundsiebzig. Wir haben Sie als rein nordischen Typus eingestuft, Corporal.«
»Was, zum Teufel, soll das bedeuten?«
»Schauen Sie eines Tages mal in den Spiegel. Länglicher Schädel, schmales Gesicht, flache Stirn, schmale
Lippen, hoch gewachsener, schlanker Körper. Das sind die erforderlichen Charakteristika. Und all dies wird natürlich von Ihrer Genealogie gestützt, die eine reinrassige Herkunft bis zurück zu der Zeit aufweist, als Ihre Vorfahren aus England ausgewandert sind. Wenn nicht die gegenwärtigen bedauerlichen Umstände wären, dürften Sie sich sogar für die Mitgliedschaft in der Schutzstaffel bewerben!« Der Wissenschaftler machte offenbar einen Scherz.
Gary schaute zu den Tischen nebenan. Auf Tisch fünf, dem am weitesten von diesem Bestimmungsort der »Rein Nordischen« entfernten, lag ein ordentlicher Stapel gelber Stoffsterne.
Gary wurde entlassen und durfte, begleitet von einem Wärter, zum hinteren Ende des Saales zurückkehren, um seine Kleider zu holen. Doch dann gab es einen Tumult. Er schaute zu seiner Reihe zurück. Ben Kamen stand vor dem Prüfungstisch. Die dortigen Forscher wirkten erregt; sie blickten zu Ben hoch und blätterten in weiteren Akten. Dann stieß einer von ihnen einen Ausruf aus und zeigte auf ein Foto. »Standartenführer Trojan!«, rief er. »Standartenführer!« Ben wich zurück und prallte gegen Willis, aber Wärter eilten nach vorn und packten ihn an seinen dünnen Armen.
»Ich hol dich da raus, Hans!«, rief Gary. »Ich hol dich raus!«
Doch nun kamen die Wärter, um auch ihn zu ergreifen. Im Saal brach Chaos aus.
IX
23. September
Gary fand heraus, dass Ben in jener Nacht der Schulaula-Prozedur und auch der nächsten nicht in seinen Schlafraum zurückgekehrt war. Und er erfuhr, dass »RuSHA« als Kürzel für das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS fungierte.
Am Dienstag dieser Woche, nach der in der Nacht von Sonntag auf Montag erfolgten Kategorisierung durch die SS, lag eindeutig etwas in der Luft. Die Nachmittagsschicht am Monument fiel aus, und die Arbeitskommandos wurden zurückgebracht. Es gab einen raschen Appell auf dem Fußballplatz, wo der Stalag-Kommandant ihnen allen erklärte, sie müssten dafür sorgen, dass sie so »vorzeigbar wie unter den gegebenen Umständen möglich« seien. Im Duschblock sollte es sogar den ganzen Nachmittag über warmes Wasser geben.
Am Ende des Tages,
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