Diktator
schlecht, ganz gleich, wie müde man war, und in jedem beliebigen Moment befanden sich immer nur einige wenige im Reich der Träume. Nachts hörte man manchmal leises Schluchzen. In dieser Nacht gab es jedoch kein Bettengehopse.
Die alten Schiebefenster der Schule waren wegen der Verdunkelung übertapeziert worden, aber der Kleister bekam allmählich Risse, und das Papier schälte sich ab, so dass Gary etwas von der Nacht draußen sehen konnte. Hin und wieder wurde es abrupt sehr hell, wenn der Lichtstrahl eines Suchscheinwerfers über die Fassade des Gebäudes strich. Er hörte die Geräusche des Lagers, das scharfe Klicken der Stiefel eines Wachpostens auf seinem Rundgang, einen Schrei, wenn es irgendeinem Übergeschnappten wieder einmal nicht gelang, Ruhe zu finden. Doch als die Stunden verstrichen, schienen sich seine Sinne zu erweitern, bis sie die Nacht ausfüllten, und er hörte den Ruf einer Eule, das
Brausen von fernem Verkehr, das Brummen einer Messerschmitt, die irgendwo über Kent Patrouille flog.
Und in dieser Nacht war da etwas Neues … unbekannte deutsche Stimmen, die leise miteinander sprachen, die Stimmen der SS-Leute, die die Nacht durcharbeiteten. Er fragte sich, wie viele andere Insassen denselben Gesprächen lauschten, und wie viel Angst sie hatten.
Es war keine Überraschung, als sie mitten in der Nacht zum Appell gerufen wurden.
VIII
Nur wenige der Männer besaßen noch Armbanduhren, aber einer von ihnen hob sein Handgelenk ins helle Licht eines Scheinwerferstrahls und sagte, es sei nach drei Uhr morgens.
Die Männer rappelten sich mühsam hoch und suchten nach ihren Hosen, Mänteln, Strümpfen und Holzschuhen – keine Stiefel im Lager, um die Ausbrecher zu behindern. Dann polterten sie die Treppen hinunter, wobei sie sich im Dunkeln anrempelten.
In den Amtsstuben des Lagers brannte helles Licht, ebenso in der Aula, dem Speisesaal, der Sporthalle und anderen großen Räumen. Auf dem kalten, taunassen Gras des Fußballplatzes reihten sich die Männer hinter den Rangältesten ihrer eigenen Nationalitäten auf; schließlich gab es hier nicht nur Briten, sondern auch Polen, Franzosen, Belgier, Holländer und Soldaten des Empires wie Kanadier und Neuseeländer. Gary war der einzige Amerikaner, soweit er wusste, und er stand bei den Briten, wie auch Ben, irgendwo im Dunkeln, ein falscher Amerikaner.
Die SS-Leute gingen zusammen mit den ranghöheren Wehrmachtsoffizieren vor den Reihen auf und ab und inspizierten die Männer beiläufig. Sie unterhielten
sich leise, zu leise, als dass Garys wenige Brocken Deutsch von Nutzen gewesen wären. Danny Adams, der rangälteste Brite im Lager, und die anderen Offiziere wurden zu einer kurzen Besprechung gerufen.
Dann mussten sich die Männer zu Gruppen formieren. Die Briten, das größte Kontingent, wurden in drei Gruppen von jeweils ungefähr fünfzig Mann aufgeteilt. Gary drückte sich ein bisschen herum, damit er ins selbe Drittel gelangte wie Ben. Willis gehörte ebenfalls dazu.
Ein Wärter rief forsch: »Mitkommen!« Garys Gruppe wurde als Erste zur Aula geführt. Als die Männer vorwärtsschlurften, roch Gary schimmelige Mäntel und den süßlichen Gestank von Körpern, die seit einem Jahr nicht mehr richtig gebadet worden waren, und er spürte ihre wachsende Furcht angesichts der Tatsache, dass sie mitten in der Nacht von der SS irgendwohin gebracht wurden.
Im Gänsemarsch betraten die Männer die Aula. Sie war hell erleuchtet. Gary sah eine Reihe Klapptische, die am Kopfende des Saales aufgestellt worden waren, vor der Bühne, auf der Schuljungen früher ihre Schulfarben erhalten hatten. SS-Offiziere saßen in einer Reihe hinter den Tischen, schwarz wie Krähen auf einer Mauer. Sie schoben Papierstapel hin und her. Einige anonyme Wissenschaftlertypen in weißen Kitteln machten sich an irgendwelchen Gerätschaften zu schaffen. Wachposten der Wehrmacht standen herum, das Gewehr in der Hand; sie sahen genauso müde und verärgert aus wie die Gefangenen.
Im hinteren Teil des Saales hatte man mit einem Vorhang einen Bereich abgeteilt. Dorthin wurden die Gefangenen geführt. Ein paar Wachposten stiegen auf Stühle, um einen Überblick über die Gruppe zu gewinnen. Einer von ihnen, ein lebhafter, tüchtiger Hauptmann, klatschte in die Hände. »Ausziehen«, sagte er. »Auch die Strümpfe, meine Herren. Klamotten da drüben auf einen Haufen. Dann in drei Reihen antreten.«Er machte abgehackte Bewegungen. »Eins, zwei, drei.«
»Hören Sie
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