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Diktator

Diktator

Titel: Diktator Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Baxter
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Bahnlinien an der Ostküste. Einige wenige Soldaten waren unterwegs von einem Standort zum anderen, aber die Menschen waren größtenteils Flüchtlinge aus London, ein ständiger Strom, der auch nach einem Jahr noch nicht versiegt war, Frauen und Kinder, alte Leute und Invaliden, beaufsichtigt von Polizisten und ARP-Warten, die alle auf einen Zug in den Norden warteten.
    Die WAAF-Frau brachte Mary zu ihrem Abteil und
vergewisserte sich, dass ihr reservierter Sitzplatz frei war. Mary würde sich das Abteil mit einer Mutter und ihren drei Kindern sowie zwei älteren Männern teilen. Die Kinder schienen durchaus guter Dinge zu sein, stämmige kleine Geschöpfe, die in viele Schichten Kleidung eingepackt waren, jedes mit einer bunten Gasmaskentasche im Gepäcknetz. Für sie war dies ein Abenteuer, ein schulfreier Tag. Sie kreischten begeistert, als die Lokomotive puffend zum Leben erwachte und Dampfwolken am ganzen Zug entlangwogten. Sie brachten Mary zum Lächeln.
    Aber es schien eine lange, langsame Fahrt zu werden, und in dem überbelegten Zug war es heiß. Mary schaute hinaus und versuchte, sich mit dem Ausblick auf ein Land inmitten seines langen Krieges abzulenken.
    In der Nähe von London waren die herbstlichen Felder mit ausgebrannten Fahrzeugen und Drahtschlingen übersät, Schutz gegen die Landung von Fallschirmjägern oder Segelfliegern. Mitglieder der Home Guard hatten in MG-Nestern und Gräben an jeder Station, jeder Brücke und jedem Bahnübergang Stellung bezogen, um die Bahnlinie bei einem erneuten Vormarsch der Deutschen zu zerstören. Die Verteidigungsmaßnahmen entbehrten nicht einer gewissen Logik; Sperrlinien verliefen parallel zu den Küsten, falls die Deutschen nachträglich noch weitere Landungsversuche unternahmen, und andere Linien durchschnitten das Land, um jeden Vorstoß aus dem Protektorat heraus zu erschweren. Aber der Gedanke an die zahllosen
Minen und Sprengladungen, die der Zug unterwegs passieren musste, machte Mary nervös.
    In den Bahnhöfen, in denen sie hielten, wimmelte es von Uniformierten der konventionellen britischen Truppen, des Commonwealth und der Vereinigten Staaten sowie der riesigen britischen Freiwilligenheere wie Marys WVS. Großbritanniens Verwandlung in ein Land der Uniformen gefiel Mary nicht. Es war, als hätte die deutsche Denkweise jedermann infiziert, als hätten die Deutschen bereits gesiegt.
    Und die Städte waren von den Narben des Krieges gezeichnet. Trotz der bereits durchgeführten Reparaturarbeiten sah man Lücken in der Bebauung der Straßenzüge, Löcher, die von Unkraut statt von Menschen besiedelt worden waren. Überall gab es Verteidigungsstellungen, Flakgeschütze und Sperrballons. Und es wurden in aller Eile Fabriken errichtet, die man aus London und dem Süden hierherverlegt hatte. An Leuten, die diese Arbeiten verrichten konnten, herrschte kein Mangel; alle Großstädte Englands hatten Flüchtlinge aus London aufgenommen, die nun obdachlos und arbeitslos waren.
    Abgesehen von den Grafschaften des Protektorats hatte die Hauptstadt am meisten unter der Invasion gelitten. London war in englischer Hand, wurde jedoch immer wieder bombardiert und schwebte in permanenter Gefahr, so dass die Stadt langsam ausblutete. Die Menschen und Fabriken wurden fortgeschafft, die Hafenanlagen verbarrikadiert oder gesprengt, die vielen Staatsfunktionen woandershin ausgelagert:
York war jetzt der Regierungssitz, Manchester war Großbritanniens Finanzzentrum, die königliche Familie war nach Holyrood in Edinburgh umgezogen, und der Sitz der Kirche von England war nach Liverpool verlegt worden. Londons Museen und Galerien hatte man leer geräumt, der kostbare Bestand war verstreut und versteckt worden. Die Stadt selbst verwandelte sich in ein menschenleeres Museum, dem nur seine immobilen architektonischen Schätze blieben.
    Manche Kommentatoren – zum Beispiel George Orwell – meinten, London werde sich vielleicht nie mehr von dieser grausamen Stilllegung erholen. »O doch, das wird es«, hatte Mary die alten Grantler in den Pubs von Colchester sagen hören. »Wir schicken die Cockney-Ärsche eigenhändig zurück.«
    So ging die Reise vorbei. Alle waren still, außer den Kindern. Mary glaubte zu verstehen, warum die Leute gedrückter Stimmung waren. Alle Erwachsenen im Waggon standen vor einer ungewissen Zukunft. Und jedermann in England hatte im Krieg jemanden verloren, sogar Mary, die gar nicht hierhergehörte.
    Es war eine Erleichterung, als der Zug in Newcastle

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