Diktator
und entscheidbar sein.«
»Da komme ich schon nicht mehr mit«, gestand Mary.
»In Ordnung. Stellen Sie sich das Ganze als Gesetzeswerk vor. Gleichgültig, wie klug Sie bei der Abfassung Ihrer Gesetze vorgegangen sind, es wird immer Fälle geben, die nicht innerhalb dieses Rahmens entschieden werden können. Also müssen Sie natürlich eine weitere Regelung hinzufügen. Aber das zeigt, dass das Gesetzeswerk nie vollständig sein kann. Was niemanden überrascht, der schon mal vor einem Richter gestanden hat, so wie ich.
Gödel hat jedoch einen Wurm des Zweifels in der Mathematik selbst gefunden, im Innersten dessen, was wir für die abstrakteste und logischste aller unserer intellektuellen Beschäftigungen halten. Selbst simple Arithmetik kann niemals vollständig sein. Ich meine, das ändert nichts daran, dass Mathe tagein, tagaus funktioniert ; aber wir wissen nun, dass es immer Grenzen dafür geben wird, was wir über sie aussagen können. Es besteht eine Kluft zwischen unserer Intuition und der Wahrheit über Mathematik, verstehen Sie. Und nachdem Gödel diese Bombe hatte platzen lassen, wandte er seine Aufmerksamkeit Einstein zu …«
Als er sich mit der Relativität befasste, beunruhigte ihn eine weitere Kluft zwischen Intuition und Theorie. Sie betraf das Wesen der Zeit.
»Wir wissen, dass Gödel die Werke von Philosophen wie Platon und Heidegger las. Das hatte zur Folge, dass er sorgfältig über unser inneres Zeiterleben nachdachte.« Er betrachtete sie. »Unserer Intuition zufolge ist nur die Gegenwart real. Stimmt’s? Wir sitzen hier in diesem Bauernhaus, während ein Moment nach dem anderen vergeht. Die Zukunft ist nur potenziell, noch nicht entschieden; sie wird aus dem Moment hervorgehen, existiert aber noch nicht. Auch die Vergangenheit ist ein für alle Mal vorbei, sie hat nur Spuren hinterlassen, so wie die längst untergegangenen Römer ihre Spuren hier in Birdoswald hinterlassen haben. Die Zeit ist also wie ein Gewebe, Faser für Faser aufgebaut, und jede neue Faser entsteht, um über die letzte gelegt zu werden.«
»Der Zeitteppich«, sagte sie und dachte an Geoffrey Cotesfords Formulierung.
»Ja, ganz recht. So fühlt die Zeit sich an . Aber leider beschreibt die Relativitätstheorie die Zeit ganz und gar nicht so …«
In der Relativitätstheorie gab es keine globale Zeit, keinen einzelnen Moment, der das Universum umspannte und alle Beobachter vereinigte. Stattdessen gab es nur »Ereignisse«, Punkte, die zusammenhanglos um eine grafische Darstellung der Raumzeit herumschwammen. »Es hat alles mit der Lichtgeschwindigkeit zu tun. Das war klar, oder? Und ohne eine globale
Zeit kann es keine gemeinsame Gegenwart geben, die im ganzen Universum für uns alle entsteht. Die Relativitätstheorie ist weithin anerkannt. Und doch scheint die Zeit, die sie beschreibt, nichts mit der inneren Zeit zu tun zu haben, der Zeit, wie wir sie erleben.«
»Ich glaube, ich verstehe«, sagte sie.
»Sie sind sehr tapfer, Mary, aber mir machen Sie nichts vor! Gödel ist nicht der Einzige, der mit diesen Dingen Probleme hatte. Einige Physiker, wie zum Beispiel James Jeans, haben die Ansicht vertreten, es gäbe vielleicht doch eine Weltzeit, eine kosmische Zeit, die auf der Expansion des Universums oder vielleicht der mittleren Bewegung der Materie darin basiert. Verstehen Sie? Ein Merkmal des Universums, auf das alle Beobachter sich einigen könnten, unabhängig von ihrem jeweiligen Bewegungszustand. Aber das kam Gödel ein wenig willkürlich vor; ihn beruhigte das nicht. Darum hat er sich – in Zusammenarbeit mit Kamen, wie wir glauben – in Einsteins Mathematik vertieft. Ich gebe zu, ich improvisiere hier ein bisschen; Gödel hat seine Ergebnisse noch nicht offiziell ausgearbeitet, und bis es so weit ist, tappen wir alle ein wenig im Dunkeln. Aber er versucht offenbar, eine Beschreibung eines möglichen, mit Einstein konsistenten Universums zu finden, in dem es keine kosmische Zeit geben kann.«
»Und er hat eins gefunden.«
»Ich fürchte, ja. Er sagt, wenn das Universum insgesamt rotiert, könnte ich mit einer Super-Spitfire drumherum fliegen – vorwärts in die Zukunft, aber schließlich würde ich in der Vergangenheit landen.«
»In so einem Universum wären Zeitreisen also möglich.«
»Nun, das ist die stillschweigende Schlussfolgerung, die Sie und ich natürlich zögen. Ich glaube jedoch, dass Gödel sich nicht für Zeitreisen interessiert. Er ist Logiker; er versucht einfach, einen
Weitere Kostenlose Bücher