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Dimension 12

Dimension 12

Titel: Dimension 12 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Unschlüssigkeit, mein feiges Zögern – die zehn Minuten, die ich in verkehrter Richtung fuhr –, hätte ich sie nicht vergeudet, wäre mein Bruder noch am Leben. Aber ich hatte Angst zu handeln. War wie gelähmt. Ich ließ ihn in die Mine gehen.«
    »Aber du bist ihm nachgefahren«, wandte Roy ein.
    »Das war nur eine Geste. Ich wußte, daß er zu diesem Zeitpunkt kaum mehr zu retten war. Ganz bestimmt wollte ich seinen Tod. Deshalb habe ich soviel Zeit verschwendet. Himmel, ich habe meine Tage immer nur mit Alkohol und Weibern vertrödelt, während er eine Stütze der Gesellschaft war. Glaubst du, daß mir seine Überlegenheit nicht in die Nase gestiegen ist?«
    »Du hältst es also für deine Pflicht, dir das Leben zu nehmen, weil du moralisch am Tode deines Bruders schuld bist?«
    »Richtig.«
    Unbekümmert sagte Roy: »Leon, du bist ein Heuchler.«
    »Was?«
    »Du spielst Theater. Du hast dich zum Helden eines kleinen Dramas gemacht. Du möchtest, daß alle wegen deiner Selbstmordabsichten um dich zittern. Aber in Wirklichkeit willst du gar nicht sterben. Dir fehlt zum Sterben genau so der Mut wie zur Rettung deines Bruders.«
    »Was erlaubst du dir?« brauste Rocklin auf. »Du sollst mich beschützen, aber nicht beleidigen!«
    »Ich sage dir nur die Wahrheit über dich selbst.«
    »Das stimmt nicht. Ich will sterben.«
    »Warum hast du dann die Polizei angerufen, bevor du dir die Pulsadern aufgeschnitten hast? Und als du das Gas aufdrehtest, war es dasselbe. Warum hast du einem wildfremden Bargast in Juneau gesagt, daß du dich in den Schnee legen würdest, um zu sterben? Warum hast du versucht, vor meinen Augen die Beruhigungspillen zu schlucken?«
    »Das ist nicht wahr«, sagte Rocklin fassungslos. »Wer hat dir gesagt, daß ich die Polizei angerufen habe und daß…«
    »Steht alles in deiner Krankengeschichte«, erwiderte Roy. »Vor jedem Selbstmordversuch hast du dich genauest vergewissert, daß er dir ganz bestimmt nicht gelingen würde.«
    In ehrlicher Bestürzung kniff Rocklin die Augen zu. »Ich schwöre dir, daß ich mich an nichts dergleichen erinnere.«
    »Kann sein. Du bist psychisch gerade krank genug, um nicht zu wissen, was du treibst. Aber verrate mir eines: warum hast du niemals eine unwiderrufliche Selbstmordart gewählt? Wenn sich jemand die Pulsadern aufschneidet, verpaßt man ihm ein paar Bluttransfusionen, und alles ist wieder in Ordnung. Aber versuch mal, jemand zusammenzuflicken, der sich vom fünfzigsten Stockwerk gestürzt hat! Oder warum hast du dir keine Kugel in den Kopf gejagt? Ein zerschossenes Gehirn kann kein Arzt reparieren. Es gibt eine ganze Reihe verläßlicher Methoden. Aber du hast keine davon gewählt. Und deshalb behaupte ich, daß du mogelst, Leon.«
    Rocklin fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Er hatte ein eisiges Gefühl in der Magengrube. Die Worte seines Begleiters hatten ihn tief getroffen und Dinge ans Licht gezerrt, die er nie vermutet hätte. Zögernd sagte er: »Stell mich auf die Probe. Laß mich fünf Minuten allein, dann wirst du schon sehen, was ich tue.«
    »Ein anderes Mal vielleicht«, antwortete Roy.
    »Aber wenn du nicht glaubst, daß ich die Absicht habe…«
    »Am Ende beweist du mir noch, daß ich mich geirrt habe. Und dann werde ich aufgelöst. Und ich lebe gerne.«
    »Aufgelöst?«
    »Klar«, sagte der Homunkulus. »Wenn ich nicht imstande bin, deinen Selbstmord zu verhindern, heißt das, daß ich versagt habe. Und Versager werden bei uns nicht geduldet. Wir werden wieder in den Schmelztiegel geworfen und neu zusammengesetzt. Wenn du stirbst, sterbe ich auch. Daher meine unermüdliche Wachsamkeit.« Die Reise verlief ohne weiteren Zwischenfall. Die unbarmherzigen Worte seines Begleiters gingen Rocklin nicht aus dem Kopf. Sein Todesverlangen erschien ihm nun beinahe lächerlich, nachdem es von Roy als abgeschmacktes Theater gegeißelt worden war. Er selbst hatte es bisher immer für den Ausdruck seiner Seelenqual gehalten. Jetzt allerdings begann Jeffs Tod bereits in seiner Erinnerung zu verblassen. Das lähmende Schuldgefühl, das Rocklin ein Jahr lang niedergedrückt hatte, wich.
    Die brutale Aufrichtigkeit seines Begleiters hatte ihm die Augen geöffnet. Aber diese Selbsterkenntnis verringerte seine Selbstverachtung nicht. Nur verabscheute er sich jetzt aus anderen Gründen als zuvor. Seine Seele war unverändert von Jeffs Tod befleckt, aber jetzt trug sie obendrein auch noch den Makel der Verlogenheit.
    Allerdings lenkte ihn

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