Dinge geregelt kriegen – ohne einen Funken Selbstdisziplin
es ein neues Schreckgespenst geben, und die Kulturpessimisten der Zukunft – also eventuell wir selbst – werden die Jugend ermahnen, mehr fernzusehen und weniger zu schnarfen und zu golken. Oder was es dann eben so gibt.
Heute jedoch nicht
Der richtige Moment
«Da gibt es kein Geheimnis. Man muss nur zur rechten Zeit die rechten Tasten mit der rechten Stärke drücken, dann gibt die Orgel ganz von selber die allerschönste Musik.»
(Johann Sebastian Bach)
Das Warten auf den richtigen Moment wird oft als erbärmliche Ausrede der LOBOs verdammt. Der richtige Moment sei eine üble Schimäre. Man solle sich hüten, an seine Existenz auch nur zu glauben, und ihn erst recht nicht als Erklärung, Begründung oder Ausrede für Prokrastination verwenden. Jetzt ist der richtige Moment gekommen, um den richtigen Moment zu rehabilitieren. Es gibt ihn, und ihm wohnt genau die Kraft inne, von der man immer geträumt hat. Leider ist er ein scheues Wesen, das sich nicht beliebig und zu jeder Aufgabe anlocken lässt. Der wichtigste Ratschlag muss deshalb wie so oft lauten: Nachdenken. Lohnt es sich für diese spezielle Handlung, auf den richtigen Moment zu warten, oder nicht? Dabei ist es zunächst unerheblich, ob es sich um ein hochkreatives Werk mit Weltgeltungsabsichten oder um das Tapezieren des Flurs handelt.
Dann sollte man sich der Suche nach dem richtigen Moment für eine Aufgabe widmen; die Lösung reicht naturgemäß von sofort bis nie. Beide Extreme sollten als Möglichkeit stets in Betracht gezogen werden – gerade der Charme der Entdeckung, dass der korrekte Zeitpunkt für eine Tätigkeit eventuell «nie» ist, darf nicht unterschätzt werden. Peter Glaser,Spezialist der ersten Stunde für die digitale Gesellschaft, schreibt in einer Kolumne über das von ihm so benannte Elvis-Presley-Prinzip der Informationsverarbeitung: «It’s now or never». Er bezieht sich auf die Entscheidung, sich nicht sofort mit Artikeln, Mails, Medieninhalten zu befassen, sondern sie in einen Ordner «Noch erledigen» zu sortieren, sie zu markieren oder auf einen Papierstapel zu legen, der bereits aus drei Pfund zu bearbeitendem Papier besteht. Die Welt ist voll von solchen Stapeln. Die meisten wachsen einfach vor sich hin, bis sie irgendwann versehentlich oder absichtlich weggeschmissen werden. Peter Glaser hat für sich und uns entdeckt, dass zumindest im Bereich Information und Medien kein Später existiert. Wir danken ihm, werfen ab heute alles weg, was nicht sofort verarbeitet werden kann, und versuchen, dieses Prinzip auch für andere Bereiche zu überprüfen.
Etwas komplizierter wird es, wenn der richtige Zeitpunkt für eine Tätigkeit nicht jetzt oder nie ist, sondern dazwischen liegt, zum Beispiel in sechzehn Jahren. Das bekannteste Gemälde der Kunstgeschichte, Leonardo da Vincis «Mona Lisa», wurde vermutlich im Frühjahr 1503 begonnen. Leonardo selbst rechnete zunächst mit der Fertigstellung innerhalb eines Jahres, was bereits für eine einigermaßen legere Zeiteinteilung spricht. Einer der ersten Biographen da Vincis, Giorgio Vasari, berichtete schon im 16. Jahrhundert explizit, da Vinci habe das Gemälde nach vier Jahren noch immer nicht beendet. Leonardo behielt es bis kurz vor seinem Tod im Jahr 1519 – vermutlich, weil es ihm noch unfertig erschien. Ungesichert hingegen ist die Anekdote, dass er erst ganz zuletzt das Lächeln gemalt haben soll, das dem Bild seine Unsterblichkeit verliehen hat. Falls sie nicht nur gut erfunden ist, müsste man aus heutiger Sicht sagen, dass da Vinci glücklicherweise sechzehn Jahre mit dem Malen des Lächelns gewartethat. Was für ein Verlust für die Menschheit, wenn er sich bereits nach zwölf Jahren mit einem halbgaren Grinsen zufriedengegeben hätte!
Die Geschichte der Mona Lisa lässt den Suchenden nach dem richtigen Moment, den Wartenden mit der Vision am Horizont, den Lethargischen mit der Hoffnung auf Energie und allen anderen Aufschiebenden die Möglichkeit, sich auf dem richtigen Weg zu glauben, wenn das halb- oder drittelfertige oder schon beinahe begonnene Werk eben noch in der Ecke liegen und reifen muss, vielleicht, weil der Schöpfer auf die richtige Inspiration wartet. In der Wendung «auf Inspiration warten» ist der Warteprozess korrekterweise zentral integriert. Das gesellschaftliche Verständnis für diese Form des Wartens auf den richtigen Moment beschränkt sich allerdings fast ausschließlich auf anerkannte Künstler im Schaffensprozess. Niemand findet
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