Dinge geregelt kriegen – ohne einen Funken Selbstdisziplin
etwas dabei, wenn eine Band drei Jahre für ihr neues Album braucht, das aus neun Liedern à drei Minuten besteht. Kaum ein Schriftsteller wird nörgelnd befragt, weshalb er für seinen Zweitling, eine Sammlung von kurzen Erzählungen, vier Jahre gebraucht hat. Und auch bei der sechzehnjährigen Abwartezeit im Leonardo-Beispiel würde der ärgste Prokrastinationskritiker freundlich mit den Schultern zucken. Im sozialen Alltag schlägt dem LOBO jedoch schon Verachtung entgegen, wenn nicht wenige Stunden nach dem Einzug alle Umzugskartons geleert und die Habseligkeiten in Schränke und Regale einsortiert sind.
Zweifellos existiert in den meisten Kulturen ein Hunger danach, den richtigen Zeitpunkt für eine Handlung zu kennen. Die chinesische Philosophie des I Ging schlägt dem Menschen vor, geduldig zu warten, bis die Zeit gekommen ist; unterdessen könne man einigermaßen sinnvolle Dinge tun.Im alten Rom wie in vielen Indianerkulturen Nord- und Mittelamerikas gab es Auguren und Schamanen, zu deren Aufgaben unter anderem die Bestimmung des richtigen Zeitpunkts gehörte. Auch heute versuchen sich Menschen in der westlichen Zivilisation, auf mehr oder weniger spirituelle Weise dem richtigen Zeitpunkt zu nähern: Der Biorhythmus ist eine pseudowissenschaftliche Methodik, die intellektuelle Verfassung, emotionalen Zustand und körperliches Wohlbefinden beschreiben und vorhersagen möchte. Es mangelt nicht an Büchern, die Mondphasen für alles menschliche Schaffen verantwortlich machen, und das angesichts des Esoterikbooms beinahe klassisch zu nennende Horoskop besteht ebenfalls zum großen Teil aus Empfehlungen, was man wann tun und lassen soll.
Tauchen wir aus dem Morast der Vermutungen auf und wenden uns anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnissen zu: Die Fachrichtung Chronobiologie läuft uns geradewegs ins Zielfernrohr. Es geht dort darum, den Einfluss von Zeitrhythmen wie Tagen, Monaten oder Jahren auf biologische Systeme zu erforschen. Was den Menschen betrifft, so hat die Chronobiologie uns ein paar Erkenntnisse beschert, die man eventuell schon vorher geahnt hat, aber es ist ja immer ganz schön, sein Bauchgefühl von akkuraten Kittelträgern mit Schutzbrillen universitär bestätigt zu bekommen. So unterteilen Chronobiologen Menschen in Lerchen und Eulen. Auch der mäßig geübte Vogelkundler weiß, dass Lerchen morgens singen und tirilieren, wohingegen mit Eulen vor dem Abend wenig anzufangen ist. Leider kommt der gesellschaftliche Tagesrhythmus arg lerchig daher. Eulen tun vollkommen recht daran, eine Arbeit, die ihnen von einer gewissenlosen Cheflerche morgens um neun aufgebürdet wird, bis in den späten Nachmittag hinein liegenzulassen. Denn die Leistungsfähigkeit in kognitiven Prozessen kannje nach Tageszeit stark differieren, wie der Vater der Schlafforschung und Entdecker der RE M-Schlafphase , Nathaniel Kleitman, bereits 1933 in einem Artikel im «American Journal of Physiology» dargelegt hat. Interessanterweise gilt das besonders für zwei eigentlich gegensätzliche Eigenschaften, nämlich für die Assoziationsfähigkeit – eine der Grundlagen der Kreativität – und für die Ergebnispräzision etwa beim Multiplizieren von Zahlen. Energiehaushalt, Körpertemperatur, Puls und viele andere physische Kennziffern sind ebenfalls von der Tageszeit abhängig; das Prinzip dahinter ist der circadiane Rhythmus, ein schöner Fachbegriff mit mittelgroßem Imponierpotenzial für den etwa 24 Stunden dauernden Tagesrhythmus des Menschen.
So gibt es um drei Uhr morgens einen allgemeinen Höhepunkt an Geburten, um neun wird das meiste Testosteron produziert, um zwölf zirkulieren die meisten Bluteiweiße, um neunzehn Uhr hat man am häufigsten Zahnschmerzen (was aber auch daran liegen kann, dass dann soeben sämtliche Zahnarztpraxen geschlossen haben), und wieder um vier Uhr morgens scheint der beste Zeitpunkt zum Sterben gekommen zu sein. Über den Tag hinaus gehen die infradianen Rhythmen bei Lebewesen. Hierzu zählen der Winterschlaf und eine Reihe anderer Phänomene quer durch die Fauna wie Brunftzeit, Mauser und Zugvogeltum.
Dass auch für Menschen nicht jeder Tag, jede Woche und jeder Monat gleich ist, bemerken Frauen besonders plastisch am infradianen Phänomen Menstruation und Männer daran, dass sie im März auf der Nordhalbkugel überdurchschnittlich häufig Vater werden, weil sie es im Juni überdurchschnittlich häufig probiert haben. Zieht man die Tatsache hinzu, dass sich das Wetter, vor
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