Dinotod: Tannenbergs vierter Fall
Langhaardackel, dem seine Eltern nun schon seit weit über einem Jahr Asyl gewährten. Schließlich übte dieser ungeliebte Mitbewohner einen regelrechten Psychoterror auf ihn aus. Vor allem nachdem dieses, von Tannenberg nur als ›Mistvieh‹ bezeichnete Tier ihm einmal bei einer heimtückischen Attacke aus der Besenkammer eine schmerzhafte Bisswunde zugefügt hatte.
Zudem schreckten ihn sowohl die Aussicht auf die ritualisierte Begrüßungsformel seines Vaters, der nur allzu gerne und allzu lautstark der Nachbarschaft den Dienstrang seines Sohnes entgegenschmetterte, als auch das Zusammentreffen mit der aufdringlichen Schleicherin davon ab, den kürzeren Weg über sein Elternhaus und den gemeinsam genutzten Innenhof zu wählen.
Liebendgerne nahm er deshalb einen kleinen Umweg in Kauf. Aus diesem Grunde blieb er noch ein paar Meter in der Richard-Wagner-Straße und bog dann in die Parkstraße ein. Obwohl er einen Schlüssel für das Haus seines Bruders besaß, läutete er an diesem kühlen Aprilabend. Neffe Tobias, der gerade Müll in den Hof gebracht hatte, öffnete und geleitete ihn sogleich ins Wohnzimmer, wo er auch schon sehnsüchtig erwartet wurde.
„Da bist du ja endlich!“, begrüßte ihn Heiner und überreichte ihm einen gefüllten Sektkelch. „Schampus, Junge, echter Schampus! Es gibt schließlich auch was zu feiern!“
Für einen Augenblick verschlug es Tannenberg die Sprache.
„Was ... Was gibt es denn zu ... feiern?“, stammelte er, nachdem er sich wieder ein wenig gefangen hatte.
„Das hier, Wolf! Ab Montag kannst du es in jeder Buchhandlung in Deutschland kaufen!“, frohlockte Heiner, während er ihm ein schmales Buch so nahe vor die Augen warf, dass Tannenberg kurz zusammenzuckte und dann reflexartig die Hand seines Bruders ein wenig nach unten drückte.
Dann ergriff er das Büchlein und las den Titel murmelnd vor: „Heiner Tannenberg – Stumme Schreie – Kriminalpoesie ... Kriminalpoesie – was ist denn das?“ Die Stirn des altgedienten Hauptkommissars glich einem ungebügelten, faltenübersähten Baumwollhemd.
„Das ist eine Sammlung von Gedichten mit kriminologischen Inhalten. Ich kann dir nur sagen: Das ist eine totale Marktlücke.“
Tannenberg brummte nur kurz auf. Er schlug den broschierten Buchdeckel um – und entdeckte die handschriftliche Widmung ›Meinem Lieblingsbruder Wolf in tiefster Verbundenheit.‹ Aufkeimender Stolz hauchte ein strahlendes Lächeln auf Tannenbergs Gesicht. Er schlug das erste Blatt des Büchleins um und wurde des in kursiven schwarzen Lettern aufgedruckten Schriftzuges ›Wolf Tannenberg gewidmet‹ gewahr, der sein wohlwollendes Staunen in wahrhafte Ergriffenheit verwandelte.
Tannenberg umarmte seinen älteren Bruder und drückte ihn ganz fest an sich. „Vielen Dank, Heiner!“ Er räusperte sich. „Der erste Schriftsteller in unserer Familie. – Wahnsinn!“
Die beiden Männerkörper entfernten sich wieder voneinander.
„Weißt du eigentlich, wer mich dazu angeregt hat?“ Heiner wartete nicht, bis sein Bruder antwortete, sondern fuhr gleich fort. „Dieser Serienmörder, der in deinem ersten Fall als Leiter der Mordkommission diese Gedichte an euch geschickt hatte. Und die wir dann gemeinsam zu interpretieren versucht haben. Erinnerst du dich daran?“
„Klar!“, entgegnete Tannenberg schmunzelnd. Dann veränderte sich schlagartig seine Mimik. Hektisch schlug er das Buch auf, blätterte darin herum. „Diese verrückten Gedichte hast du ja hoffentlich nicht dadrin, oder?“
„Nein! Um Gottes willen, natürlich nicht!“
Erleich tert seufzte Tannenberg auf. Seine Augen hakten sich an einem Gedicht fest, das er sogleich mit sich erhebender Stimme zum Besten gab:
»In the summertime ...
Was tat der Opa, zweiundachzig Jahr,
In einer Sommernacht so klar?
... War die Oma doch so lieb.
Niemand weiß, was ihn so trieb.
Warum er sie entzweigeschnitten?
... Hat wohl unter ihr gelitten.“
Tannenberg lachte. „Nicht schlecht, Heiner! Richtig schöner schwarzer, englischer Humor. Meinen tief empfundenen Respekt! Ich finde es richtig toll, dass du alter Sack noch mal was ganz Neues ausprobierst. Super – echt!“
Dann begann er plötzlich zu singen. Heiner stimmte bereits nach der ersten Zeile mit ein:
„In the summertime
When the weather is high
You can stretch right up
An’ touch the sky
When the weather’s fine
You got women, you got women on your mind
Have a drink, have a drive
Go out an’ see what you can
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