Dinotod: Tannenbergs vierter Fall
– Heiner, ich brauch deinen Sharan.“
„Was? ... Was machst du jetzt? Wozu brauchst du unser Auto?“
„Ich miste jetzt auch mal aus. Und zwar in meiner Wohnung, im Keller und auf dem Dachboden. Und dann fahr ich alles Gerümpel zur Deponie ins Kapiteltal. Wie lange haben die samstags geöffnet?“
„Ich glaub bis zwölf“, antwortete Heiner, der augenscheinlich mit dem plötzlichen Aktivismusschub seines Bruders nichts anzufangen wusste.
Auch Margot Tannenberg zeigte sich sehr irritiert. „Aber Wolfi, das geht doch nicht. Sowas muss man doch in aller Ruhe planen. Sonst wirfst du noch unsere Sachen weg. Und die will ich doch behalten.“
Tannenberg hatte sich in der Zwischenzeit von seinem Stuhl erhoben und war bereits voller Tatendrang zur Küchentür geeilt.
Auf diesen Zuruf hin drehte er sich noch einmal kurz um. „Quatsch, Mutter“, gab er zurück, „ich werf nur meinen alten Kram weg!“
Dann schnappte er sich Heiners im Flur auf einer Weichholzkommode abgelegte Autoschlüssel, begab sich in die Garage und schuf durch das Umklappen der Rückbank des Sharan in Windeseile den benötigten Transportraum.
Anschließend spurtete er in sein Elternhaus, stürmte wie ein Berserker durch das Gebäude und sammelte dabei alle möglichen überflüssigen Gegenstände zusammen, die er zunächst im Treppenhaus zwischenlagerte, um sie anschließend nacheinander in den geräumigen Van seines Bruders zu verfrachten.
Unter dem ausgemusterten Gerümpel befanden sich neben einem wahren Berg von Zeitschriften und Aktenordnern auch zwei verschlissene Teppiche, ein defektes Fernsehgerät und ein nach Meinung seines Besitzers nicht mehr benötigter Bauchtrainer.
Während seines gesamten Amoklaufs hatte er nicht einen einzigen Augenblick über sein Handeln nachgedacht. Er war widerstandslos diesem unglaublich dominanten Impuls gefolgt, der ihn in Heiners Küche wie eine zwanghafte Manie überfallen hatte.
Zu diesem Zeitpunkt konnte er natürlich nicht wissen, dass die an diesem trüben, verregneten Frühlingstag über ihn hereinbrechenden Ereignisse derart bedeutsam waren, dass er sich noch viele Male in seinem späteren Leben daran zurückerinnern sollte.
Aufgrund der widrigen Witterungsverhältnisse waren anscheinend nur wenige seiner Zeitgenossen auf eine ähnliche Idee gekommen. Denn als er nach einer etwa zehnminütigen Fahrt die weit vor den Toren der Stadt im Kapiteltal gelegene Mülldeponie erreichte, stellte er verwundert fest, dass auf der steilen Zufahrt zur so genannten ›Wertstoffsammelstelle‹ lediglich zwei Fahrzeuge warteten.
Nachdem er ein paarmal versucht hatte, diesen auf einem großflächigen Schild plakativ zur Schau gestellten Zungenbrecher richtig auszusprechen, gab er sich kopfschüttelnd geschlagen.
Wie immer, wenn er in der Vergangenheit hierher gefahren war, bemächtigte sich seiner wieder diese starke innere Unruhe. Sie war darauf zurückzuführen, dass er eine tief sitzende Aversion gegenüber jeglicher Form von praktizierter Amtsautorität besaß.
Während er ungeduldig darauf wartete, dass sich der mit Bauschutt beladene Kleintransporter vor ihm in Bewegung setzte, dachte er an die LKA-Kriminalpsychologin, die ihn bei seinem ersten Fall als Leiter des K 1 des Öfteren mit einigen unangenehmen Facetten seiner sperrigen Persönlichkeit konfrontiert hatte.
Die würde jetzt garantiert etwas von ›ausgeprägter Wert-Stoff-Sammel-Stellen-Neurose‹ faseln, sagte er zu sich selbst, wobei es ihm mit Hilfe dieser Zerhack-Technik gelang, den eigentlich unaussprechbaren Begriff zumindest fehlerfrei zu denken. Als körperliche Symptome dieses neurotischen Syndroms würde sie angeben: Erhöhter Pulsschlag, Schweißausbruch, kalte Gliedmaßen.
Zur Kontrolle nahm er seine Hände vom Lenkrad, legte sie an beiden Seiten auf die Wangen. Anschließend versuchte er sie warmzukneten. Sie hätte doch tatsächlich recht gehabt, stellte er lächelnd fest.
Dann schaltete er das Autoradio ein. Der einprogrammierte Sender gefiel ihm nicht. Es war einer dieser privaten, die in den letzten Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossen waren und die mehr Eigenwerbung produzierten als Musik. Aber wenn Tannenberg das Radio einschaltete, wollte er Musik hören, nichts als Musik – und zwar gute Musik.
Am besten die der 70er Jahre. Das war sowieso mit Abstand die beste, genialste, kreativste, zeitloseste Rockmusik, die es jemals gegeben hatte und geben würde, fand er jedenfalls.
Deshalb hatte er in seinen
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