Dinotod: Tannenbergs vierter Fall
Nach mehreren tiefen Atemzügen erhob er sich von der Bank, knüllte die Plastiktüte zusammen und warf sie in den Papierkorb. Dann griff er nach seiner Kunstledertasche und machte sich auf den Weg in Richtung des am nördlichen Stadtrand gelegenen Wohngebietes.
Als er in den Amselweg einschwenkte, erblickten ihn sofort seine beiden Kinder, die mit ihren Fahrrädern vor dem Zweifamilienhaus herumfuhren.
„Papa, wo warst du denn so lange?“, empfing ihn sein Sohn. „Die Mama wollte schon die Polizei anrufen.“
Nahezu zeitgleich mit dem Wort ›Polizei‹ verspürte Peter Walther einen schmerzhaften Stich in der Magengrube, sein Herz begann zu rasen. Irgendeine beschwichtigende Entschuldigung vor sich hinmurmelnd, stürmte er an seinem Sohn vorbei in den Vorgarten in Richtung seiner Frau, die lauthals schimpfend und wild gestikulierend auf der Treppe stand.
„Hast du wirklich die Polizei angerufen?“, schrie er ihr ungehalten entgegen.
„Nein!“, gab sie barsch zurück. „Kannst du denn nicht Bescheid sagen? Wo hast du denn so lange gesteckt?“
Erschrocken blickte er auf seine Armbanduhr. Er war tatsächlich seit mehr als zwei Stunden überfällig.
„Ich hab einen alten Klassenkameraden getroffen“, log er ohne jegliche Gewissensbisse. „Und da haben wir uns eben festgequatscht. Tut mit leid.“
Anschließend begab er sich zur Toilette, verriegelte die Tür und schnaufte erst mal kräftig durch. Während sich sein Pulsschlag allmählich reduzierte, blickte er kopfschüttelnd in den Spiegel.
Gott sei Dank hat sie die Polizei nicht angerufen, sagte er erleichtert zu sich selbst. Er raufte sich die Haare, schüttete sich anschließend zwei Hände voll kaltes Leitungswasser ins Gesicht. Das war knapp! Ich darf nicht unvorsichtig werden. Wo doch bis jetzt alles so gut gelaufen ist.
Er ließ in Gedanken das Training Revue passieren, das er gemeinsam mit seinem Bruder als Vorbereitung auf einen möglichen Anruf der Kriminalpolizei durchgeführt hatte. Paul hatte ihm nochmals mit eindringlichen Worten klar gemacht, dass die Polizei mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Helenes Verwandtschaft routinemäßig befragen würde.
Deshalb hatte er seine und Peters Antworten auf die wichtigsten Fragen schriftlich fixiert und sie dabei inhaltlich so aufeinander abgestimmt, dass sie sich damit gegenseitig ein Alibi verschafften. Durch die Offenlegung ihrer Kenntnis vom Inhalt des Testaments ihrer Tante, mit dem sie ja die beiden Brüder de facto enterbt hatte, sollte zudem diskret auf das Fehlen jeglichen Tatmotivs von Seiten der Brüder hingewiesen werden.
Zunächst hatte jeder für sich die Texte so lange in sein Gedächtnis eingefräst, bis sie schließlich so automatisiert waren, dass man jeden der Brüder mitten in der Nacht hätte aufwecken und im Halbschlaf die Einprogrammierungen abtesten können.
Ein paar Mal hatte Paul seinen Bruder nach Dienstschluss abgeholt. In seiner Wohnung hatten sie sich die auswendig gelernten Passagen so lange gegenseitig vorgespielt, bis die Texte so flüssig und natürlich präsentiert wurden, als ob sie überhaupt nicht inszeniert worden wären.
Ein zufriedenes Lächeln verdrängte nach und nach die immer noch erkennbare Anspannung aus Peter Walthers Gesichtszügen.
Der Anruf bei mir im Amtsgericht ist dann ja auch völlig reibungslos über die Bühne gegangen, resümmierte er kopfnickend. Ich war ja auch wirklich super vorbereitet. Und keiner hat etwas davon mitgekriegt, als dieser Ermittlungsbeamte sich gemeldet und höflich um Auskunft gebeten hat. Auch bei Paul war alles glatt gegangen. Na ja, der war ja schon immer viel abgebrühter als ich. Aber ich war auch gut. Richtig gut sogar!
Mit stolzgeschwellter Brust begab er sich zurück zu seiner Frau, die noch immer an der Haustür stand.
„Sei so lieb und ruf mal die Kinder rein“, flötete er ihr von der Seite her ins Ohr. „Ich hab euch allen eine riesengroße Überraschung mitgebracht.“
Helga drehte sich mit gekrauster Stirn ihrem Mann zu. „Was für eine Überraschung denn?“, fragte sie ungläubig.
Peter antwortete nicht, sondern zuckte nur vieldeutig mit den Schultern. Er schlenderte pfeifend in die zwar zweckmäßig eingerichtete, aber recht spartanisch wirkende Küche, die von einer billigen und unansehnlichen Ikea-Anbauzeile dominiert wurde. Dieses Mobiliar hatte ihnen schon damals nicht recht zugesagt. Aber trotzdem hatten sie sich aufgrund des sehr angespannten Familienbudgets notgedrungen zum Kauf
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