Dir darf ich nicht gehören
Bedeutung für ihn gewann, als es bereits der Fall war. Er fühlte sich
ihr gegenüber auch so schon erbärmlich genug. Er bekämpfte seine Neugier
kurzzeitig. Einige gelöste Locken dunkelroten Haares lagen verlockend um ihren
Nacken.
»Sind
Sie auf dem Land aufgewachsen?«, fragte er wider Willen.
»Nein.«
Erleichtert dachte er einen Augenblick lang, sie würde nicht näher darauf
eingehen, aber dann tat sie es doch. »Ich bin in London aufgewachsen. Ich habe
mein ganzes Leben dort verbracht, bis ich vor fast zwei Jahren hierher kam.«
»Das
muss ein tief greifender Schock gewesen sein.«
»In der
Tat.« Sie hatte das Gras innerhalb ihrer Reichweite von Gänseblümchen befreit.
Nun saß sie da und hielt die beiden Enden der Kette fest. »Aber ich habe es vom
ersten Moment an geliebt.«
»Leben
Ihre Eltern noch?« Aber wenn sie noch lebten, warum, zum Teufel, waren sie dann
nicht hier bei ihr? Oder warum war sie nicht bei ihnen?
»Meine
Mutter lebt noch.«
»Waren
Sie sehr jung, als Ihr Vater starb?«
Sie
breitete die Gänseblümchenkette über den Schoß, wobei die Enden auf beiden
Seiten bis aufs Gras reichten. Sie ordnete die Gänseblümchen sehr sorgfältig
an, sodass die Blüten alle nach oben wiesen.
»Meine
Mutter heiratete meinen Stiefvater, als ich neun war. Er starb, als ich
achtzehn war - bei einer Rauferei in einer Spielhölle. Er wurde des
Betrugs beschuldigt, und ich vermute, dass die Beschuldigung gerechtfertigt
war.« Ihre Stimme klang gefühllos.
»Ah«,
machte er. Was sollte er sonst sagen? Er hatte das Heim, das sie für ihres
gehalten hatte, bei einem Kartenspiel gewonnen. Als welch grausame Ironie des
Schicksals ihr das erscheinen musste.
»Ich
habe ihn gehasst«, sagte sie, während sie peinlich genau mit ihrer Aufgabe
fortfuhr. »Ich konnte nie verstehen, warum meine Mutter vernarrt in ihn war.«
»Haben
Sie noch Erinnerungen an Ihren leiblichen Vater?«, fragte er, von
unerbittlichem Interesse für ihr Leben erfüllt.
»0 ja!«
Ihre Stimme wurde rau, als hätte sie seine Anwesenheit vergessen. Ihre Hände
ruhten auf der Gänseblümchenkette. »Ich habe ihn bewundert. Ich wartete stets
darauf, dass er nach Hause käme, und lief ihm entgegen - manchmal bis auf
die Straße -, bevor er hereinkommen konnte. Meine Mutter schalt mich dann
und ermahnte mich, ich müsse mich wie eine Lady benehmen, aber er hob mich hoch
und wirbelte mich herum und sagte mir, es sei die schönste Begrüßung, die man
sich nur wünschen könnte.«
Sie
lachte bei der Erinnerung leise. Ferdinand saß ganz still. Er hatte fast das
Gefühl, den Atem angehalten zu haben, bestrebt, mehr zu hören, aber er
vermutete, dass sie innehalten würde, wenn sie sich erinnerte, zu wem sie
sprach.
»Er
nahm mich meist auf den Schoß, wenn er und Mama sich unterhielten«, sagte sie.
»Ich blieb dort geduldig sitzen, weil ich wusste, dass auch ich an die Reihe
kommen würde. Und auch wenn er mich nicht besonders beachtete, konnte ich die
zuverlässige Sicherheit seiner Gegenwart spüren und den Schnupftabak riechen,
den er benutzte. Und er spielte wie abwesend mit meinen Fingern, seine Hände
groß und geschickt. Wenn er mir dann tatsächlich seine
Aufmerksamkeit zuwandte, lauschte er stets allen meinen kleinen, unbedeutenden
Neuigkeiten, als gäbe es nichts Interessanteres auf der Welt, und oft bat er
mich, ihm etwas aus meinen Büchern vorzulesen. Manchmal las auch er mir
etwas vor, aber nach einer Weile veränderte er die Worte meiner
Lieblingsgeschichten, bis ich mich empörte und ihn verbesserte. Dann erwischte
ich ihn, wie er Mama zublinzelte. Er nannte mich immer seine Prinzessin.«
Aber er
war noch vor ihrem neunten Geburtstag gestorben. Die kindliche Idylle hatte
geendet. Ferdinand wusste nicht, warum sie ihm Leid tun sollte. Es war lange
her.
»Es ist
wichtig, in der Kindheit geliebt zu werden, nicht wahr?«
Da
wandte sie den Kopf und sah ihn an. »Sie sind bestimmt geliebt worden. Sie
hatten noch beide Eltern, oder? Und einen Bruder, mit dem Sie spielen konnten.
Und eine Schwester?«
»Wir
haben uns stets so heftig gestritten, wie nur Dudleys es können«, sagte er
grinsend. »Aber wir waren auch Verbündete, wann immer jemand unser Trio von
außen behelligte. Es gab immer jemanden - gewöhnlich ein Hauslehrer,
manchmal ein Wildhüter oder ein Dorfnotabler -, der sich irgendwie
unseren Zorn zugezogen hatte.«
»Sie
hatten ein Heim auf dem Lande, wo Sie aufwachsen konnten«, sagte sie, »und
Eltern, die Sie
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