Dirty Old Town: Ein Wyatt-Roman (German Edition)
Schoß. Dann war es fünf Minuten vor sieben. »Los geht’s«, sagte Henri.
Joe machte Anstalten auszusteigen. »Du bleibst hier«, befahl Henri.
»Warum?«
»Wenn’s schiefgeht, brauche ich dich hier. Der Wagen muss startklar sein.«
Joe behagte das nicht. »Fordere sie nicht heraus, Henri, okay? Bring sie nicht auf die Palme. Verrat ihnen nicht, dass wir ihre Namen kennen.«
»Wofür hältst du mich?«
Joe knirschte mit den Zähnen. Henri machte sich auf zur Überführung und blieb dort in der Mitte stehen, ermahnte sich, nicht nach Alain Ausschau zu halten. Eine junge Frau lief an ihm vorbei, mit wippendem Pferdeschwanz und gefolgt von einem Hund. Dann nichts mehr. Dann ein Mann mittleren Alters, der es eilig hatte und Henri nicht einmal ansah. Der Verkehr an der Whitehorse Road war als unablässiges, wenn auch gedämpftes Dröhnen zu hören. Eine leichte Brise erfasste die Baumwipfel und Henri fühlte sich fast wie auf einem Silbertablett.
Er hörte es, bevor er es sah, ein schweres Motorrad. Wie gehetzt sah er sich um. Das Motorrad näherte sich von Westen, komplett schwarz, Fahrer und Helm. Henri spürte einen Kloß im Hals und fragte sich, ob das Ganze in die Hose gegangen sei. Ein Motorrad? Nie und nimmer hatte Alain damit gerechnet.
Mit leise knurrendem Auspuff rollte das Motorrad auf die Überführung. Alles ging wortlos vonstatten: Der Fahrer hielt einen Meter von Henri entfernt, der ließ den Aktenkoffer aufschnappen, präsentierte das Geld. Der Fahrer übergab daraufhin eine Sporttasche, wartete, eine Waffe in der Hand, während Henri die Dokumententaschen hervorholte, sie öffnete und sich davon überzeugte, dass die Papiere echt waren. Unter der Lederkombi des Motorradfahrers zeichneten sich Brüste und wohlgeformte Oberschenkel ab. Das war also die Frau. Und wo war ihr Partner?
Henri nickte und übergab den Aktenkoffer. »Alles drin.«
Die Frau lachte. Sie fuhr mit dem Daumen durch jedes einzelne Bündel, als erwarte sie Attrappen, stieß dabei auf den Transponder und zermalmte ihn umgehend mit dem Absatz ihres Stiefels. Sie nahm nicht den Aktenkoffer an sich, sondern stopfte die Geldbündel in die Gepäcktasche des Motorrades, gab Gas und schoss an Henri vorbei über die Überführung, eine attraktive schwarze Gestalt auf ihrer aufheulenden Maschine. Am Highway ein kurzes Aufleuchten der Bremslichter, dann beschleunigte sie, fuhr nicht Richtung Innenstadt, sondern nach Osten.
Furneaux schüttelte völlig perplex den leeren Aktenkoffer.
Joe Furneaux saß bei heruntergelassenem Seitenfenster, bewegte den Kopf zum Rhythmus der Red Hot Chili Peppers, als er die Maschine vorbeischießen sah. ’ne Ducati, dachte er, nette Karre. Er drehte den Kopf zur Seite, wollte sehen, was der GPS-Monitor zu sagen hatte: Nichts.
Er sah hinüber zu Henri. Auf der Überführung stand schon wieder ein Motorrad, alles in Schwarz, Maschine und Fahrer.
***
Eddie Oberin drückte dem Juwelier die Pistole in den weichen Bauch. »Her mit der Tasche.«
Aber der Kerl widersetzte sich, hielt die Sporttasche gegen seine Brust gepresst und fing an, sich zu winden. »Wir hatten eine Abmachung.«
»Tja, Dinge ändern sich nun mal.«
»Ihr Deppen könnt unmöglich wissen, wie man die Papiere losschlägt.«
Eddie traute seinen Ohren nicht. Wofür hielt sich der Typ?
Umgeben von prickelnd frischer Luft, im Schattenspiel der Dämmerung, durchdrungen von dem Gefühl, dank der Waffe unangreifbar zu sein, sich auf dem Gipfel einer vagen, aber körperlich wahrnehmbaren Größe zu befinden, erinnerte sich Eddie Oberin, dass Khandi ihn — und zwar mehrmals — als Waschlappen bezeichnet hatte. Seine Anweisungen waren klar: Greif dir die Papiere und sieh zu, dass du Land gewinnst; dabei wollte er dem Kerl so gern eine Kugel verpassen.
Er bekam sich wieder in den Griff und ließ die Pistole sinken. »Rück endlich die Tasche raus.«
»Wer sind Sie?«, fragte Furneaux, »Wyatt? Oberin? Wir wissen — «
Mensch! Eddie hob die Pistole und schoss Furneaux in den Hals. Es kam zu einem Gerangel um die Tasche, als sich die Finger des Juweliers daran klammerten. Furneaux rutschte weg und ging zu Boden. Eddie schoss ein zweites Mal, diesmal in die Stirn.
Euphorisch und wütend zugleich, jagte er von der Überführung und hielt am offenen Fenster des Mercedes.
»Nein«, sagte Joe.
»Und ob«, sagte Eddie.
Ein Schuss in die Schläfe. Es war ein unbeschreibliches Gefühl.
29
Lynette Rigby folgte Henri Furneaux von seinem
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