Dirty Talk
etwas holen konnte. Neben ihr saß Patrick. Ivan hatte es irgendwie geschafft, den Platz zu meiner Rechten zu ergattern. Ich fand das ärgerlich, weil ich lieber mit den Menschen geplaudert hätte, die ich gut kannte. Aber er redete mit den Leuten, die auf seiner anderen Seite saßen, und nahm kaum Notiz von mir.
„Dafür ist es jetzt ein bisschen spät“, wandte ich ein. Die meisten hatten den Teller zum ersten Mal geleert. „Außerdem denke ich, einige von uns sind vielleicht Juden oder Buddhisten. Es könnte Stunden dauern, wenn wir für jede Glaubensrichtung das richtige Tischgebet sprechen wollen.“
„Dann machen wir es so, wie meine Momma es gerne macht.“ Sie strahlte alle Gäste an.
Oh nein, bloß nicht. „Jedes Jahr versuchst du aufs Neue, uns in ein Gemälde von Norman Rockwell zu entführen.“
Aber sie war nicht mehr zu bremsen. „Also los. Reihum sagt jeder am Tisch, wofür er dieses Jahr besonders dankbar ist. Wir können das auch machen, während wir essen. Jo, du bist die Gastgeberin. Du darfst anfangen.“
„Als Gastgeberin will ich von meinem Vetorecht Gebrauch machen. Wo ist eigentlich die Truthahnfüllung abgeblieben? Ich hab noch nichts davon bekommen.“
Patrick stand auf, beugte sich über den Tisch und fand die von allen Seiten belagerte Schüssel mit der Füllung. Mit einem Lächeln reichte er sie mir.
„Na los, fang schon an.“ Kimberly schenkte mir ihr strahlendstes Lächeln.
Ich streckte ihr die Zunge heraus. „Also gut. Ich bin dankbar für die Gesellschaft von euch allen und für das leckere Essen – ich glaube, in genau der Reihenfolge. Ich danke Patrick, der mir in der Küche geholfen hat. Und ich habe nicht genug Bratensoße bekommen. Wo ist die denn hin? Ich bin dankbar für meine Freunde, für Bratensoße und den Schnee, die Berge und diesen wirklich köstlichen Wein.“
„Den Wein habe ich mitgebracht“, warf Ivan ein.
„Danke schön. Also los, Kimberly, jetzt bist du dran.“
„Gut.“ Sie faltete die Hände und begann ihren gewöhnlich langen Monolog über Freunde, gute Zeiten und wie viel Glück sie doch hatte und wie sehr sie ihre Familie drüben in Texas liebte. Als ich diese Litanei das erste Mal hörte, fand ich sie bewegend, doch seitdem hatte ich sie unzählige Male in den darauffolgenden Jahren über mich ergehen lassen und feststellen müssen, dass Kimberly alles in der Erinnerung verklärte, je mehr Alkohol sie getrunken hatte. Auch wenn das zynisch klang, war sie immer noch meine Freundin, und ich liebte sie dafür, wie sie sich in herzlichen Gefühlswallungen verlor.
Als Nächster war Patrick dran. Er hob sein Glas. „Auf Jo. Danke, dass du uns heute aushältst.“
Die Anwesenden hoben ebenfalls ihre Gläser und prosteten mir zu. In diesem Moment liebte ich sie allesamt, obwohl viele auf der Brust Flecken von Bratensoße hatten oder mit vollem Mund sprachen oder so unglaublich fette Soßenspritzer auf meiner uralten bestickten Leinentischdecke hinterließen.
„Ich hatte ein ziemlich hartes Jahr“, fuhr Patrick fort. „Aber jetzt bin ich einfach glücklich, hier zu sein und ein paar neue Freunde gefunden zu haben. Einige sind für mich etwas ganz Besonderes.“ Dabei blickte er mich direkt an, und mir stockte der Atem. „Und zum ersten Mal seit Monaten bin ich optimistisch, wenn ich in die Zukunft blicke.“ Er hob erneut sein Glas etwas an, in meine Richtung. Es war eine so subtile Andeutung, dass ich mich fragte, ob es jemand anderes bemerkt hatte. Einen Moment lang verschwanden die anderen Gäste um uns herum; Patrick und ich sahen uns in die Augen. Ich verspürte die gegenseitige Zuneigung und das Verlangen, das uns beherrschte.
Dann war der Moment vorbei, und Ann erzählte von ihren jungen Kätzchen und ihrem Freund. Sie arbeitete als Praktikantin beim Sender und hatte nicht genug Geld, um mit ihm zu seinen Verwandten an die Westküste zu fahren, aber dieses Fest war im Grunde fast genauso gut. Obwohl sie ihre Mom, ihren Dad und ihre Schwester vermisste, fügte sie hinzu. Und brach in Tränen aus.
Patrick reichte ihr fürsorglich eine Serviette und umarmte sie freundschaftlich. Andere versammelten sich um sie und nahmen sie in den Arm, und jemand schaufelte noch mehr Kartoffelbrei auf ihren Teller, weil er glaubte, das sei das ultimative Essen, um Kummer zu vertreiben.
„Ich hab dir ja gesagt, dass das keine gute Idee ist“, sagte ich zu Kimberly. „Pass nur auf, gleich gibt’s eine Kettenreaktion und wir haben nur noch
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