Dirty
anderes als diese verdammten Zahlen, Ella.“
„Ja, du warst für mich ja auch immer das beste Vorbil?“, versetzte ich.
Sie drückte ihre Zigarette aus und kreuzte die Arme vor ihrer üppigen Brust. Das gekonnt aufgetragene Make-up konnte die Falten unter ihren Augen nicht verschwinden lassen. „Ich wünschte, du würdest nicht immer so klug daherreden. Und mehr auf dich achten. Aber vor allem solltest du endlich begreifen, dass ich immer nur dein Bestes wollte, statt mich ständig anzugreifen.“
Ich hielt die Tasse in beiden Händen, doch jetzt stellte ich sie ab und presste die Hände flach auf die Tischplatte. Ich betrachtete sie angestrengt, versuchte mich selbst in diesem Gesicht zu erkennen, in der Farbe ihrer Augen und ihrer Haare. Ich versuchte mich selbst in meiner Mutter zu entdecken, irgendeine Verbindung, die bewies, dass ich tatsächlich einmal in ihrer Gebärmutter war. Dass sie mich vor langer Zeit vielleicht einmal mit etwas anderem als Enttäuschung betrachtet hatte.
„Ich wünschte, ich wäre wieder fünfzehn und hätte Nein gesagt, als Andrew mich fragte, ob ich ihn liebe. Und ich wünschte, er hätte mir besser zugehört, anstatt in mein Bett zu kommen.“
Jegliche Farbe wich aus ihrem Gesicht und hinterließ nur zwei knallrote Flecken von Rouge. Einen Moment lang dachte ich, sie würde ihn Ohnmacht fallen. Oder losbrüllen.
Stattdessen verpasste sie mir eine derart schallende Ohrfeige, dass ich in meinen Stuhl zurückgeschleudert wurde. Ich legte eine Hand auf meine Wange und sah ihr direkt in die Augen. „Und ich wünschte, du würdest endlich aufhören, mir die Schuld daran zu geben.“
Ich rechnete schon mit dem nächsten Schlag oder Kaffee im Gesicht oder Kreischen und Schreien. Aber gegen das, was sie als Nächstes tat, war ich nicht gewappnet. Sie begann zu weinen. Echte, dicke Tränen liefen aus ihren Augen und hinterließen dunkle Spuren in ihrem Make-up. Sie tropften von ihrem Kinn auf die dunkelblaue Samtbluse. Ihren bebenden Lippen entrang sich ein Schluchzen.
„Wem sonst sollte ich die Schuld geben?“, fragte sie, und ihre Worte schmerzten mehr als die Ohrfeige. „Er ist tot.“
Ich wollte aufstehen, hatte aber nicht die Kraft. „Du wusstest es, nicht wahr?“
„Ich wusste es.“ Sie putzte sich mit einer Serviette die Nase und tupfte sich die Augen. Die Wimperntusche hinterließ schwarze Halbkreise auf dem weißen Papier.
„Du hast mich Lügnerin und Hure geschimpft.“ Ich zwang mich, die Worte auszusprechen, sie fühlten sich scharf an, als ob sie Kratzer hinterlassen würden.
Nie zuvor hatte ich sie so trostlos erlebt. Und so gleichgültig gegenüber der Tatsache, dass die Tränen ihr Make-up ruinierten und ihre Nase rot werden ließen. Wieder wischte sie sich über die Augen, entfernte noch mehr Eyeliner, Lidschatten und Mascara. Ohne die Schminke sah sie nackt aus. Verletzlich.
„Glaubst du, dass ich eine Lügnerin und Hure war?“ Meine Worte sollten streng klingen. Doch sie klangen nur flehend.
„Nein, Ella. Das glaube ich nicht.“
„Warum hast du es dann gesagt?“ Nun weinte ich auch, wischte mir die Tränen aber nicht weg. Meine Hände lagen nach wie vor flach auf dem Tisch. „Wieso?“
„Weil ich dachte, wenn ich es sagte, würde es vielleicht wahr?“, schrie sie. „Weil ich nicht glauben wollte, dass er dir so etwas antat! Ich wollte es nicht glauben, Ella, dass mein Sohn so böse sein konnte! Wenn du eine Lügnerin wärst, wäre alles nicht wahr. Denn lieber hätte ich eine Lügnerin und Hure zur Tochter gehabt als einen Sohn, der seine Schwester vergewaltigt.“
„Auch lieber als einen schwulen Sohn, nicht wahr?“, frage ich sanfter, als ich es selbst je für möglich gehalten hätte. „Du hast lieber einen toten Sohn und eine Tochter ohne richtiges Leben als einen lebendigen und wunderbaren Sohn, der Männer liebt?“
Es war kein gutes Gefühl, sie in sich zusammenfallen zu sehen, dabei hatte ich mir eingebildet, Triumph zu verspüren, wenn ich sie endlich auf all das ansprach. Nun machte es mich nur traurig.
„Du verstehst nicht, wie es ist, Kinder zu haben. Wie sehr sie einen enttäuschen können. Du weißt nicht, wie es ist, einem anderen Menschen das Leben zu schenken und zuzusehen, wie er es einfach wegwirft. Du weißt nicht, Ella, wie es ist, ich zu sein.“
Ich studierte ihr Gesicht für einen langen, langen Augenblick. Schließlich stand ich auf, nicht voller Triumph, sondern mit einem anderen Gefühl, nach dem ich
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