Diverses - Geschichten
Die Sonne bedeutete laufen, die Dunkelheit bedeutete Rast. Und wenn der Junge es schaffte, wenn er nicht versagte, wenn es ihm gelang, die sich immer weiter von ihm entfernende, graue Masse im Auge zu behalten und weiterzulaufen, dann würde alles gut. Wenn er nur weiterliefe In die Richtung, in der die anderen verschwanden, solange bis er sie einholte.
Denn einholen musste er sie. Der Junge war nicht schnell genug, um mit ihnen zu gehen. Seinen kurzen Beinen gelang es nicht mit ihrem Tempo mitzuhalten. Er blieb zurück, je weiter der Tag fortschritt. Unaufhaltsam, ebenso wie der Gang der Sonne unaufhaltsam war. Ebenso wie der Marsch der Menschen nicht gestoppt werden konnte.
Wovor sie auch flohen, es musste schlimmer sein, als dieser Weg, schlimmer als die Erschöpfung, als das nächtliche Weinen und das Stöhnen, das den vielen Kehlen entwich, die nicht mehr fähig waren, Worte zu bilden.
Angst trieb sie an, und Angst trieb den Jungen an. Die Angst davor allein zu sein, der schreckenerregenden, unvorstellbaren Gefahr alleine gegenüber zu stehen. Einer Gefahr, die so groß und so grauenvoll sein musste, dass der Krieg im Vergleich zu ihr nur noch zu einem Lebensumstand wurde.
Krieg erschreckte niemanden mehr. Häuser waren zerstört, Nächte in Kellern verbracht worden, das Geheul der Sirenen und das Nahen der Bombenflieger die einzigen Laute, die zählten.
Es blieb nichts als die Flucht und sie nahm kein Ende. Die Menge entfernte sich, die grauen Gestalten wurden kleiner und kleiner. Sie schrumpften, versuchten am Horizont zu verschwinden. Der Junge versuchte, sie aufzuhalten, doch er konnte es nicht. Sie gingen weiter, liefen ohne sich umzusehen.
Und so lief auch der Junge weiter, trotz seiner schmerzenden Beine, trotz seiner tauben Glieder, trotz des brennenden Durstes und des quälenden Hungers.
Er lief, weil er keine Wahl hatte, weil er weitergehen musste, weil es weitergehen musste. Auch wenn er nicht wusste, was es war.
Dennoch zwang es ihn vorwärts, bis die Großen selbst vor Erschöpfung zusammenbrachen. Bis sie sich entschieden Halt zu machen, die Nacht willkommen zu heißen, ihre Gebete in die Dunkelheit zu schicken.
Dann kam er ihnen näher. Dann ging er langsam, Schritt für Schritt, auf die anderen zu. Unaufhaltsam, unermüdlich. Das war sein Leben.
Gesichtsblindheit
Corinna hatte nie vermutet, irgendwelche wie auch immer gearteten Probleme betreffend ihrer Wahrnehmung mit sich herumzutragen. Sie war immer in der Lage gewesen, sich auf ihrem Lebensweg zurecht zu finden. Ohne Auffälligkeiten und Probleme, sowohl was ihr Privatleben als auch ihren beruflichen Werdegang anging, gelang es ihr gerade aus durch die Welt zu marschieren.
Natürlich mussten Abstriche gemacht werden. Natürlich war sie gezwungen ihre Grenzen zu erkennen und sich auf diese einzustellen.
Doch blieb sie Zeit ihres Lebens davon überzeugt, dass sie sich diese Grenzen selbsttätig erschuf, dass ihre gelegentlichen Ausfälle, ihre regelmäßig auftretende Verwirrtheit doch nur an ihrer Zerstreutheit lag, an ihrer Neigung durch die Welt zu spazieren, während sie mit ihrem Kopf in den Wolken schwebte.
Eine Träumerin, das war sie immer gewesen. Und existierte überhaupt ein Zweifel daran, dass die Traumwelt jederzeit der Realität vorzuziehen sei?
Corinna glaubte nicht daran.
Die Realität trug zu viel Schwere, zu viel Trauer und zu viel Trockenheit in sich, als dass es ihr erstrebenswert erschien, sich von morgens bis abends mit dieser abzufinden. Sie wählte ihre Ausflüge in die Leichtigkeit der Phantasie freiwillig, und im besten Wissen ihrer Kosten.
Denn blieb sie abgelenkt, nur mit den Füßen locker dem Boden der Wirklichkeit verhaftet, so entgingen ihr zwangsläufig Einzelheiten, und gelegentlich gar bedeutende Einzelheiten, deren Abwesenheit in ihrem Bewusstsein zu Corinnas Verwirrung beitrugen, und so manches Mal zu durchaus bedenklichen Folgen führten.
Doch handelte es sich niemals um Folgen, die in ihrer Tragweite das kurzfristige Chaos in Corinnas Verstand auf irreparable Art manifestierten. Corinna war stets in der Lage, nach einer kurzen Phase der Verwirrung ihren Halt in der Realität erneut zu verankern, Schlüsse zu ziehen und Hinweise zu verknüpfen, bis sie ihren Anschluss an die ablaufenden Vorgänge fand und sich wieder in das Geschehen einklinkte.
Corinna war intelligent, daran hatte es nie einen Zweifel gegeben. Und somit gelang es ihr auch jedesmal von neuem, ihren unauffälligen Beitrag
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