Diverses - Geschichten
für die Gemeinschaft zu leisten, unabhängig davon, für wie unnötig und sinnlos sie diese an sich hielt.
Daher war es ihr auch ein leichtes die Erwähnung des Phänomens flink beiseite zu schieben, als eine der Merkwürdigkeiten der Welt zu betrachten, die nicht das Geringste mit ihr oder mit ihrem Leben zu tun hatten.
Dazu gesellte sich die Überzeugung, die Corinna ihr Leben lang begleitete, die unumstößliche Gewissheit, dass sie es besser konnte, wenn sie es denn nur wollte. Und mit ‚es‘ meinte sie die oft unterschätzte, selten anerkannte, weil stets als selbstverständlich angenommene Fähigkeit der Differenzierung zwischen den Menschen, die ihre Welt bevölkerten.
Und wenn ihre Tante darüber klagte, dass sie die Gesichter ihrer Mitmenschen nicht voneinander unterschied, so reagierte Corinna lediglich mit einem abfälligen Schmunzeln. Wenn Tantchen darauf bestand, dass sie in Filmen und Theaterstücken regelmäßig gezwungen war, sich ihren eigenen Reim auf Namen und Ereignisse zu machen, da sie die auftretenden Personen unmöglich unterscheiden konnte, so schob Corinna dies auf die Sehschwäche, die ihre Tante zwang stets eine dicke Brille zu tragen.
Denn sie selbst, Corinna, kannte Probleme dieser Gestalt nicht. Corinna war eine aufmerksame Betrachterin jeglicher Ereignisse auf dem Bildschirm, verfolgte Personen und Handlungsabläufe entsprechend der ihr gebührenden Bedeutung.
Denn schließlich lieferten ihr Filme und vor ihr ausgebreitete Geschichten, Entwicklungen und Charakterzeichnungen die ultimative Vorlage für die Traumwelten, die sie als Ausgleich zu der Ödnis ihres Lebens benötigte. Soweit war sie in ihrer Erkenntnis der Tatsachen bereits gelangt.
Sie studierte die Gesichtszüge der Protagonisten, die sie interessierten, deren Geschichten sie für sich weiterspann, und die sich ihr unauslöschlich einprägten, ob sie nun wollte, oder nicht.
Es bestand keine Möglichkeit, dass sie diese Züge je verwechselte, jemals einen Zweifel daran hegte, zu wem sie gehörten, um welchen Charakter, um welchen Menschen es in welcher Situation ging.
Nicht in der Welt der Träume.
Und somit lag der Schluss klar auf der Hand. Auch im wirklichen Leben existierte kein Zweifel. Das einzige, was existierte, war ihr eigener Mangel an Interesse, an Aufmerksamkeit.
Gesichter, die in ihrem Leben eine Rolle spielten, waren schlichtweg nicht interessant genug, als dass sie sich diese merkte.
Zudem verbot ihr die anerzogene Höflichkeit einem Menschen allzu lange und allzu gerade ins Gesicht zu starren, bis sich seine Züge ihr einprägten.
Ein Problem, auf das sie während der Betrachtung des Bildschirms keine Rücksicht zu nehmen brauchte. Ganz im Gegenteil. Es gehörte in Situationen wie diesen gewissermaßen zu ihren Aufgaben, sich so gut als möglich auf die Person zu konzentrieren, deren Bemühungen doch auch nur dieses Ergebnis bezweckten. Angesehen zu werden, beobachtet, bis sich das Gesicht und im besten Falle zugleich auch der Name für immer in das Gedächtnis der Zuschauer einprägten.
Und Corinna war zufrieden damit. Ihr Leben brauchte nicht mehr. Es gab wenige Menschen auf die es ihr ankam, und diese hatte sie um sich.
Warum den Mann von Gegenüber, warum die Frau im benachbarten Büro grüßen in einer wertlosen, atemverbrauchenden Geste, die doch keinen von ihnen auf nur irgendeine Weise glücklicher zurückließ.
Gesichtsblindheit – was für ein Unsinn.
Corinna küsste ihren Mann zum Abschied. Sie stand mit ihrem Töchterchen am Hauseingang und sah zu, wie er ihnen zuwinkte, bevor er den Motor startete.
Diese Geschäftsreise sollte länger währen als es üblich war, aber Corinna hatte alles im Griff. Sie war stets gut im Organisieren. Sie handelte klug und umsichtig, beinahe vorsichtig. Und darauf war sie stolz, verminderte ihre Vorsicht doch die Risiken, denen sich weniger umsichtige Menschen nur allzu häufig gegenüber sahen.
Es war einer dieser Tage. Corinna holte ihr Kind vom Hort und gab vor, nur schweren Herzens der Bitte der Kleinen nachzugeben, die den Rest des Nachmittags bei einer ihrer kleinen Freundinnen verbringen wollte. Innerlich jubilierte sie jedoch, froh über die wenigen Stunden der Freiheit, die ihr bevorstanden, konnte sie das Kind bei einer anderen Mutter gut aufgehoben wissen.
Mit einem Seufzer schloss sie die Tür hinter sich, sperrte die schwüle Hitze aus, und genoss die ersten Atemzüge in der Kühle des Hauses.
Fast zwei Wochen war ihr Mann bereits
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